Noch nie haben so viele junge Menschen bei Landtagswahlen rechtspopulistisch gewählt. Jugendforscher Klaus Hurrelmann erklärt die Ursachen – und wie die Politik gegensteuern kann.
Seit 2020 gibt es die Trendstudie „Jugend in Deutschland“ in ihrer heutigen Form. Bislang ist sie halbjährlich erschienen; entsprechend bildet sie kurzfristige Trends ab, was aktuell keine andere Studie in dem Umfang leistet. Zum Autorenteam gehört der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. Mit ihm hat #staatklar über den Rechtsruck unter jungen Menschen bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen gesprochen.
#staatklar: Herr Hurrelmann, laut Forschungsgruppe Wahlen haben in Hessen 19 Prozent der unter 30-Jährigen die AfD gewählt, in Bayern 16 Prozent. Die Wissenschaftler bezeichnen das als untypisch. Und die aktuelle Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass 12,3 Prozent der 18- bis 34-Jährigen ein „Manifest rechtsextremes Weltbild“ teilen – in der vorherigen Studie waren es 1 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Klaus Hurrelmann: Nun, ganz neu ist die politische Orientierung an sich nicht. Die Shell-Jugendstudie ist bereits 2019 zu dem Ergebnis gekommen, dass 9 Prozent der Jugendlichen eine nationalpopulistische Gesinnung vertreten, bezogen auf die 15- bis 25-Jährigen. Heißt: Die Befragten stimmen populistisch aufgeladenen Statements durchgängig zu und lehnen gesellschaftliche Vielfalt ab.
Für die AfD ist das natürlich ein gefundenes Fressen. Sie hat es offenbar geschafft, noch weitere junge Menschen zu mobilisieren, nicht zuletzt über Soziale Medien, wo sie deutlich präsenter ist als andere Parteien. Dies ist sicher ein Teil der Erklärung. Aber zentral ist aus meiner Sicht die Corona-Pandemie. In dieser Zeit ist der Anteil derjenigen gestiegen, die sich von der Politik zurückgesetzt und sozial abgehängt fühlen. Viele haben den Eindruck, nicht an der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung teilzuhaben, viele haben es tatsächlich nicht. Das tut weh. Zumal wir in einer Zeit leben, in der Fachkräftemangel herrscht und der Arbeitsmarkt boomt.
In der Populismusforschung gibt es die Theorie über sogenannte Modernisierungsverlierer. Demnach wählen vor allem Menschen populistische Parteien, die sich politisch nicht mehr repräsentiert fühlen und wirtschaftlich abgehängt sind. Gehören nun verstärkt auch junge Menschen zu den Modernisierungsverlierern?
Grundsätzlich muss man bedenken, dass junge Menschen bei allem, was neue Trends betrifft, sehr progressiv sind und am Puls der Zeit leben. Egal, ob technisch, sozial und sprachlich – oder auch politisch und kulturell. Sie sind Seismografen für Trends und befürworten Modernität.
Und genau da liegt der Haken: In der Pandemie ist die Entwicklung über sie hinweggerollt. Die Schulen wurden geschlossen, was vor allem die Situation von sozial benachteiligten Jugendlichen verschlimmert hat. Für andere Generationen hat die Politik viel getan, unter anderen für den Schutz der älteren. Das war auch gut und wichtig. Allerdings hätte sie die jungen Menschen nicht vergessen dürfen. Hinzu kam, dass die Gesellschaft großes Misstrauen gehegt und kritisch beäugt hat, ob sich Jugendliche auch ja nicht illegal treffen und sich stets an die Regeln halten. Das alles hat zu einem Ohnmachtsgefühl und Vertrauensverlust geführt.
Auch in Sachen Klimaschutz fühlen sich viele junge Menschen von der Politik nicht gehört.
Das ist richtig, die Mehrheit ist sehr sensibel, was das betrifft. Viele beklagen, dass die Regierung zu wenig unternimmt. In ihrer Wahrnehmung stehen ihre Interessen ganz hinten auf der Prioritätenliste. Kurzum: Es schieben sich verschiedene Krisen ineinander, die junge Menschen ausbaden müssen. Sie befinden sich im Dauerkrisenmodus.
Was muss passieren, um verlorenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen?
Wir müssen für die Gruppe der sozial und wirtschaftlich Benachteiligten greifbare Bildungs- und Berufschancen schaffen. Zuversicht vermitteln. Das Gefühl vermitteln, dass sie als Gestalterinnen und Gestalter gefragt sind. Ich denke, dass sollte angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt ohne Weiteres möglich sein. Hier sind Politik und Wirtschaft gleichermaßen gefordert. Wir brauchen Lotsen, ausgestreckte Hände, Unterstützungsangebote. Einige vielversprechende Ansätze gibt es schon, aber wir brauchen noch mehr. Österreich etwa hat ein schönes Modell für eine Ausbildungsgarantie. Alle bekommen eine Ausbildung. Das ist eine starke Botschaft, die vermittelt: Wir kümmern uns.
Angesichts der Enttäuschungen stellt sich die Frage, ob Betroffene die ausgestreckte Hand noch ernst nehmen.
Klar ist: Vertrauen lässt sich nicht von heute auf morgen zurückgewinnen. Das verlangt einen mehrjährigen Aufbauprozess, ganz eindeutig. Absolut entscheidend: Dieser Aufbauprozess muss glaubwürdig sein. Sonst funktioniert es nicht.
Laut Koalitionsvertrag beabsichtigt die Regierung, das Wahlalter für die Bundestagswahl auf 16 Jahre abzusenken. Lässt sich Vertrauen auch über politische Teilhabe herstellen?
Die Herabsenkung des Wahlalters ändert per se nicht an dem Vertrauensbruch. Deshalb gehe ich davon aus, dass sich die Stimmen der 16- und 17-Jährigen anteilig so verteilen würden, wie es aktuell bei den 18- bis 24-Jährigen der Fall ist. Aber: Eine Herabsenkung des Wahlalters könnte dazu führen, dass die Parteien die Themen junger Menschen stärker in der Kommunikation aufgreifen und damit ernster nehmen müssten. Darin sehe ich durchaus eine Chance.
Interview: Christoph Dierking