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InterviewDr Nadin Fromm lehrt und forscht an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Foto: Christian Gelhausen/HSU Hamburg
Verwaltungen im Vergleich Fromm: „Deutschland ist ein Late Bloomer“
Was die Staatsmodernisierung betrifft, sieht Verwaltungswissenschaftlerin Dr. Nadin Fromm in Deutschland einen Spätzünder. Das könnte sich noch als etwas Positives herausstellen.
Analysieren, was sich in Verwaltungen bewährt und was nicht – von anderen Staaten lässt sich viel lernen. Aber auch der Blick in andere Bundesländer und Kommunen kann zu neuen Erkenntnissen führen. Der sogenannte Governance-Vergleich ist eines der Arbeitsgebiete von Dr. Nadin Fromm, die als Postdoktorandin an der Professur für Verwaltungswissenschaft, insbesondere Digital Government, der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg forscht und lehrt. Darüber hinaus unterrichtet sie als Lehrbeauftragte im Modul „Internationaler Governance- und Verwaltungsvergleich“ beim Weiterbildungsstudiengang Master of Public Administration der Universität Kassel.
Fromm ist von Haus aus Politikwissenschaftlerin, über ihre Promotion ist sie zur Verwaltungswissenschaft gekommen. „Ich verstehe Verwaltung nicht als anonymes System, sondern als Arbeitsplatz von Menschen, die tagtäglich für das Gemeinwohl wirken – und das selbstverständlich nicht losgelöst von der Politik, sondern als deren ausführendes Organ“, sagt sie. „Wenn unterschiedliche Akteure zusammenkommen und Veränderungen anstehen, entstehen Spannungsfelder, und die interessieren mich besonders.“
Im öffentlichen Dienst mangelt es aktuell nicht an Spannungsfeldern. Bürokratieabbau und Digitalisierung, das sind nur zwei von zahlreichen Herausforderungen der Gegenwart. Was kann der Vergleich von Verwaltungen beisteuern, um sie zu meistern? Und wo stößt er an Grenzen? Darüber hat #staatklar mit Nadin Fromm gesprochen und viele Impulse erhalten.
#staatklar: Frau Dr. Fromm, wenn in Deutschland von der Verwaltung die Rede ist, denken viele Menschen an lange Wartezeiten, ausufernde Bürokratie und Faxgeräte als Sinnbild für schleppende Digitalisierung. Nehmen wir einmal die andere Perspektive ein: Was läuft denn gut?
Dr. Nadin Fromm: Zunächst ist mir die Differenzierung wichtig, dass es nicht die eine Verwaltung gibt, sondern eine Vielzahl von Verwaltungen – angefangen beim Bund über die Länder bis hin zu den Kommunen. Und auch innerhalb der Gebietskörperschaften besteht eine große Vielfalt. Deshalb sollte man mit pauschalen Urteilen vorsichtig sein und immer auch auf den Einzelfall schauen.
Aber natürlich lassen sich Tendenzen feststellen. Gerade im internationalen Vergleich hat die deutsche Verwaltung viele Stärken, die aus meiner Sicht zu wenig wahrgenommen werden. Ganz oben steht die rechtliche Verlässlichkeit. Heißt: Das Verwaltungshandeln basiert stets auf gesetzlichen Grundlagen.
Zudem zeichnet sich die deutsche Verwaltung durch eine hohe Fachlichkeit aus. In vielen Bereichen verfügen Verwaltungsmitarbeitende über tiefes, teils spezialisiertes Fachwissen, das über Jahre aufgebaut wird. Und nicht zuletzt hat die deutsche öffentliche Verwaltung ihre Belastbarkeit in vielen Krisen unter Beweis gestellt. Dafür ist die Pandemie sicherlich ein prominentes Beispiel.
Es geht darum, aus der Praxis zu lernen und Best-Practice-Beispiele zu identifizieren, aber auch Worst-Case-Szenarien.
Nadin Fromm
Die Verwaltung ist also besser als ihr Ruf? Immerhin halten 70 Prozent der Bevölkerung den Staat für überfordert, geht aus einer Umfrage des dbb hervor.
Schauen wir noch einmal auf die rechtliche Verlässlichkeit: Das Ideal, das damit einhergeht, ist der Schutz vor Willkür, was erst einmal positiv zu bewerten ist. Das ist die eine Seite. Auf der anderen ist es natürlich so, dass mehr Gesetze zu einer erhöhten Komplexität führen, die in der Praxis Dysfunktionen verursachen können, zum Beispiel Verrechtlichung der Lebenswelt der Bürger*innen.
Um es klar zu sagen: Ja, es gibt Überforderungen. Ja, es gibt viele Probleme. Wir befinden uns in einer Transformationsphase. Aber es wäre falsch zu sagen, dass die Verwaltung in Deutschland per se nicht funktioniert.
In Ihrer Forschung widmen Sie sich dem Vergleich von Verwaltungen. Welche Ziele verfolgt diese Disziplin?
Es geht darum, aus der Praxis zu lernen und Best-Practice-Beispiele zu identifizieren, aber auch Worst-Case-Szenarien. Konkret: Was hat sich bewährt? Und was nicht? Wir machen auf wissenschaftlicher Basis konkrete Vorschläge, um Probleme zu lösen. Für die Politik, für die Verwaltung.
Was ist dabei methodisch von Bedeutung? Verwaltungen haben unterschiedliche Prägungen, sind historisch unterschiedlich gewachsen. Besteht nicht die Gefahr, dass man – sprichwörtlich – Äpfel mit Birnen vergleicht?
Entscheidend ist – ganz grundsätzlich – vor allem die Güte der Daten. Es muss nachvollziehbar sein, wie sie erhoben wurden und wie die in einer Untersuchung verwendeten Begrifflichkeiten definiert sind. Damit steht und fällt alles.
Und was spricht dagegen, auch mal Äpfel mit Birnen zu vergleichen? (lacht) Im Prinzip nichts, wenn der Kontext stimmt. Wenn wir uns mit gesunder Ernährung befassen, kann es durchaus zielführend sein, Äpfel und Birnen zu vergleichen.
Worauf ich hinaus möchte: Aufgabe der Wissenschaft ist es, Vergleichbarkeit herzustellen – insbesondere durch Forschende, die vergleichend arbeiten.
Wenn die Oberkategorie im übertragenden Sinne „Obst“ ist, funktioniert es also?
Sozusagen!
OECD bietet umfassende Datensammlung
Eine wertvolle Datengrundlage, bei der – Stichwort – die Güte der Daten gewährleistet ist, findet sich beispielsweise in der Reihe Government at a Glance, welche die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) alle zwei Jahre herausgibt.
Oft wird Estland als Musterland der Verwaltungsdigitalisierung hervorgehoben und suggeriert, dass Deutschland es doch einfach genauso machen könnte.
So einfach ist es nicht. Estland hat eine andere Verwaltungstradition und ist wesentlich kleiner als die Bundesrepublik, ein nicht zu unterschätzender Faktor. Wenn wir das alles außer Acht lassen, wären wir tatsächlich bei dem besagten Vergleich zwischen Äpfel und Birnen.
Aber es spricht nichts dagegen, sich einzelne Aspekte herauszugreifen und genauer zu analysieren. Nehmen wir als Beispiel die Nutzungsakzeptanz von digitalen Bürgerportalen. Man könnte sich anschauen, wie gut verschiedene Personengruppen mit den Portalen zurechtkommen, etwa abhängig vom Alter. Wie gut funktioniert der Zugriff und die Inanspruchnahme der staatlichen Dienstleistungen?
Ein solcher Vergleich kann auch produktiv sein, wenn er zwischen Deutschland und Estland erfolgt. Am Ende stellt man Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Der nächste Schritt wäre, sich von der beschreibenden Ebene zu lösen, und Maßnahmen abzuleiten, mit denen sich der Digital Age Gap überwinden lässt. Damit ist der ungleiche Zugang zu digitalen Technologien gemeint, der in der Regel mit zunehmendem Alter zum Problem wird.
Was sind weitere Kriterien, die man sich anschauen könnte, wenn es um die Qualität von Verwaltungen geht?
Die Bandbreite ist enorm: Angefangen bei der Bürgernähe, Effizienz und Digitalisierung über Innovationsfähigkeit, Lernfähigkeit und Korruptionsfreiheit bis hin zu Personalstärke, Resilienz und Rechtsstaatlichkeit – und mit der Digitalisierung rücken insbesondere auch der Technologieeinsatz sowie die Technologieoffenheit in den Fokus. Diese Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen.
Die Möglichkeiten sind so vielfältig, wie es Phänomene in der Verwaltung gibt.
Korrekt. Um das zu verdeutlichen, folgendes Beispiel aus meiner Forschungspraxis: Ich habe mich mit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung beschäftigt, in Deutschland eher umgangssprachlich unter dem Begriff „elektronische Fußfessel“ bekannt. Es handelt sich um ein Gerät, das – wenn die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind – am Fußgelenk von Straftäter*innen angebracht wird und Signale an eine Überwachungsstelle sendet.
Spannend: In Skandinavien erfolgt diese Praxis vor dem Hintergrund der Resozialisierung. Straftäter*innen im offenen Vollzug sollen zur Arbeit gehen und bei ihren Familien sein können. In den USA hingegen steht ganz klar die staatliche Kontrolle und Sanktionierung im Vordergrund. Mit Blick auf Deutschland muss man zwischen den Bundesländern unterscheiden. In Bayern kommt die elektronische Fußfessel am häufigsten zum Einsatz, im sozialdemokratisch geprägten Hamburg kaum.
Wenn es um die Frage geht, ob im Einzelfall die rechtlichen Voraussetzungen für die Fußfessel erfüllt sind, kommen alle Beteiligten zu Fachkonferenzen zusammen: Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft, Justizvollzugsanstalt, von der Polizei und dem psychologischen Dienst. Auf dieser Grundlage fällt das Gericht schließlich eine Entscheidung.
Bemerkenswert ist aus meiner Sicht vor allem, dass diese Entscheidung auf Fachwissen basiert, nicht auf Hierarchien. Netzwerkbildung ist das entscheidende Stichwort. Sie ermöglicht flexible Entscheidungen, die dem Einzelfall gerecht werden. Dieses ressortübergreifende, auf Fachwissen basierende Verfahren könnte sich auch in anderen Bereichen bewähren, zum Beispiel in der Migration.
Wir können gezielt schauen, welche Ideen sich bewährt haben, sie im Rahmen unserer Möglichkeiten umsetzen und so unseren eigenen Weg gestalten.
Nadin Fromm
Zoomen wir noch einmal raus: Was sind Beispiele für Verwaltungstraditionen in Europa?
Auch hier könnte man wieder unzählige Phänomene nennen. Zunächst gibt es föderal organisierte Staaten, etwa Deutschland und Österreich, und zentral organisierte, zum Beispiel Estland. Die Organisationsform kann dafür maßgeblich sein, wie schnell Reformen umgesetzt werden. Unterschiede ergeben sich auch mit Blick auf die Personalsysteme. Diese können offen oder geschlossen sein. Beispielsweise hat Schweden ein sehr offenes Laufbahnrecht, das einen flexiblen Einstieg ermöglicht. Entsprechend arbeiten viele Seiteneinsteiger im öffentlichen Dienst.
Spannend ist nicht zuletzt das Selbstverständnis von Verwaltungen: Sehen sich diese eher als ausführendes Organ der Exekutive? Oder steht vor allem die Bürgerorientierung im Fokus des Verwaltungshandelns?
Apropos Bürgerorientierung: In Estland überweist die Verwaltung das Kindergeld automatisch, die Eltern müssen keinen Antrag stellen. Auf eesti.ee, dem digitalen Serviceportal können Bürger*innen staatliche Dienstleistungen schnell und unkompliziert wahrnehmen. Die Menschen müssen sich nicht freinehmen, wenn sie aufs Amt müssen.
In Estland sind 99 Prozent der staatlichen Dienstleistungen digitalisiert, das ist ein Spitzenwert. Ein weiteres schönes Beispiel für Bürgerorientierung bietet Schweden: Die Kommunikation im Steuerwesen ist proaktiv, das Amt generiert Steuererklärungsvorschläge automatisch. Die Rede ist von einer vertrauensbasierten Verwaltung, mit einem starken Fokus auf Praktikabilität.
Deutschland ist in ein Latecomer, beziehungsweise ich würde sagen: ein Late Bloomer, ein Spätzünder. Vielleicht stellt sich das noch als etwas Positives heraus. Wir können gezielt schauen, welche Ideen sich bewährt haben, sie im Rahmen unserer Möglichkeiten umsetzen und so unseren eigenen Weg gestalten. Persönlich halte ich es für wichtig, die digitale Abwicklung staatlicher Dienstleistungen weiter voranzubringen, in Kombination mit der Option, persönlich Kontakt aufzunehmen. Für meine Begriffe ist beides im Sinne der Bürgernähe und Servicequalität erforderlich.
Mehr entdecken: „Weniger Bürokratie, bessere Verwaltung“
Auffällig ist, dass es in Ländern, die in Sachen Digitalisierung gut performen, eine Nummer gibt, die sämtliche Informationen zu einer Person bündelt – in Dänemark die sogenannte CPR-Nummer, in Österreich die „ID Austria“. In Deutschland ist man da sehr zurückhaltend, sicher auch wegen der Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus.
Ja, diese Skepsis lässt sich durchaus historisch begründen. Wenn wir uns die Nutzerakzeptanz für derartige Modelle anschauen, dann lässt sich feststellen: Sie ist wirklich nicht sonderlich hoch. In der Pandemie ist sie zwar leicht gestiegen, weil die Menschen eine Notwendigkeit erkannt haben – aber die Zurückhaltung ist unterm Strich nach wie vor sehr groß, Datenschutzbedenken überwiegen. Das ist meiner Meinung nach per se nicht falsch.
Trotzdem sehe ich einen großen Widerspruch: Privaten Unternehmen stellen die meisten Menschen ihre Daten bereitwillig zur Verfügung, in sozialen Medien präsentieren sie sich wie ein offenes Buch. Da haben plötzlich die wenigsten Bedenken. Das passt aus meiner Sicht nicht zur Skepsis gegenüber dem Staat. In diesem Zusammenhang finde ich die Idee, einen Kulturwandel zu forcieren, gar nicht so schlecht.
Aktuell spielt der Bürokratieabbau in der politischen Debatte eine große Rolle – abschließend: Welchen Impuls würden Sie beisteuern?
Ein Impuls könnte die Einführung von sogenannten Sunset-Klauseln in bestimmten Politikfeldern sein – etwa im Digitalisierungsrecht oder bei experimentellen Regulierungen.
Länder wie Australien, Neuseeland oder Südkorea machen mit dieser Praxis gute Erfahrungen: Gesetze werden befristet erlassen und treten automatisch außer Kraft, wenn keine Verlängerung erfolgt. Das zwingt zur Evaluation, erlaubt Lernschleifen und verhindert das bloße Fortschreiben ineffizienter Regelungen. Gerade in dynamischen Feldern wie der digitalen Verwaltung oder bei innovationsgetriebenen Vorhaben könnte das ein Weg sein, Bürokratieabbau mit Steuerungsfähigkeit zu verbinden.
Interview: Christoph Dierking