• Seit 2009 pflegt die dbb jugend den Austausch mit ihrer Partnerorganisation in Israel.
    Den Austausch zwischen der dbb jugend und ihrer Partnerorganisation gibt es seit 2009. Dieses Jahr waren die Israelis zu Besuch in Deutschland. Foto: Viktoria Matzen

Hansestadt und Hauptstadt

So war der Israel-Austausch der dbb jugend

Einblicke in die Arbeit des Kreisjugendrings in Wismar und der Berliner Tafel: Die Gäste aus Israel haben viel erlebt, berichtet Jugendreferentin Viktoria Matzen. Bei einem Programmpunkt wurde es emotional.

„Is there no air conditioning in here?“

Hili schaut mich mit großen Augen an. Das Thermometer zeigt fast 30 Grad und wir sind gerade am Flughafen Berlin-Brandenburg (BER) in die S-Bahn gestiegen, um in die Innenstadt zu fahren. Ich schaue sie mitfühlend an und sage, dass die S-Bahnen in der Regel keine Klimaanlage haben. „There was no need until now“, erkläre ich mit einem Lächeln. Um den Kulturschock wieder etwas abzudämpfen, füge ich schnell hinzu, dass der Regional-Express, in den wir am Zoologischen Garten steigen werden, aber stets gut klimatisiert ist. Denn für September ist es ungewöhnlich warm.

Hili ist eine von zehn Gästen aus Israel, die wir eben am Flughafen willkommen geheißen haben. Der Austausch hat Tradition: Seit 2009 pflegen die dbb jugend und ihre israelische Partnerorganisation Histadrut Leumit engen Kontakt und besuchen einander. Immer zehn Personen, immer für genau sieben Tage, immer mit maximalem Erkenntnisgewinn. Nur die Corona-Pandemie hat eine zweijährige Zwangspause verursacht, aber nun läuft der Austausch wieder – im vergangenen Jahr war die dbb jugend in Israel. Und dieses Jahr hat die israelische Delegation Deutschland besucht, vom 5. bis 11. September. Dies waren die Höhepunkte der Reise.

Update: Nur wenige Wochen nach dem Austausch herrscht in Israel der Kriegszustand. Die dbb jugend steht an der Seite ihrer Partnerorganisation und des israelischen Volkes.

Besuch beim Kreisjugendring

Der klimatisierte Regional-Express bringt uns gut gekühlt in den Norden, unser Ziel: die Hansestadt Wismar. Denn der Kreisjugendring Nordwestmecklenburg (KJR NWM) hat uns eingeladen.

Zum ersten Abendessen treffen wir Mitarbeitende des Kreisjugendrings sowie einige Jugendliche, die sich im Rahmen der vielen Angebote, Aktionen und Gremien der Organisation engagieren. Die ersten Gespräche sind noch etwas verhalten. Das Englisch muss auf beiden Seiten erstmal in Gang kommen und vor allem die Gäste aus Israel sind nach der langen Anreise müde. Doch spätestens nach der obligatorischen Vorstellungsrunde und ein paar Kennlernspielen ist das Eis gebrochen.

Am nächsten Tag geht es direkt ans Eingemachte: Wir besuchen das Techenhaus. Hier befindet sich das Kinder- und Jugendfreizeitzentrum Wismar des KJR NWM. Nach einer Hausführung berichtet unser Gastgeber Lars Ruttke von der Arbeit des Kreisjugendrings.

Die größte Herausforderung, die seinen Arbeitsalltag prägt: die Fläche. „Wir arbeiten hier in einem Landkreis, der fast so groß ist wie das Saarland“, erklärt er. „Der ÖPNV ist nicht gut ausgebaut, die jungen Leute kommen nicht flexibel durch den Landkreis“ – insbesondere die Jüngsten seien auf das Eltern-Taxi angewiesen. „Oder wir sammeln sie mit unserem KJR-Bus ein.“

Seine Kollegin Katrin Fründt ergänzt: „Das spiegelt sich auch in den Altersgruppen wider, die wir betreuen. Auf dem Land erreichen wir vor allem ältere Jugendliche, die schon über eine gewisse Mobilität verfügen“ – in Wismar sei es tatsächlich so, dass die Engagierten deutlich jünger sind.  

Welchen Einfluss die Corona-Pandemie auf die KJR-Aktivitäten gehabt habe, möchte jemand wissen. Lars deutet auf das moderne Smartboard, an dem wir die Präsentation anschauen. „Das haben wir durch Corona-Hilfsgelder bekommen“, sagt er. „Damit konnten wir während der Pandemie zumindest einige Online-Veranstaltungen machen. Das hat für Abwechslung gesorgt und viele vor Vereinsamung geschützt.“

Über den Jugendring

Stadt-, Kreis-, Bezirks-, Landesringe sowie der Bundesjugendring sind Zusammenschlüsse verschiedener Jugendverbände. Sie fungieren als Netzwerk und Interessenvertretung von rund sechs Millionen Kindern und Jugendlichen, die sich in den Mitgliedsverbänden engagieren. Ihre Aufgaben sind im Kinder- und Jugendhilfegesetz des Sozialgesetzbuchs festgelegt; ihre Tätigkeiten erfolgen oft in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe.

Die Rolle des Jugendparlaments

Eine große Beteiligungsmöglichkeit in der Hansestadt ist das Kinder- und Jugendparlament Wismar (KiJuPa), das 2011 gegründet wurde. Es bietet jungen Menschen die Möglichkeit, sich aktiv in die Stadtpolitik einzubringen, und ist damit die offizielle Interessenvertretung der Kinder und Jugendlichen in Wismar. Um die breite Palette an Themen abzudecken, wurden Arbeitsgruppen gegründet. Von Umwelt über Freizeit und Soziales ist alles dabei.

„Es hat etwas gedauert, aber mittlerweile kann die Stadtpolitik auch gut mit den Anliegen der jungen Menschen umgehen und nimmt diese ernst“, berichtet Lars. „Natürlich fällt es manchen Behörden weiter schwer, die Perspektive der Kinder und Jugendlichen mitzudenken. Aber alles in allem gibt es genug Erfolgserlebnisse für die jungen Abgeordneten.“ Demnächst stehen wieder Wahlen an. Alle zwischen neun und 19 Jahren sind wahlberechtigt – aktiv und passiv.

Eines der Erfolgserlebnisse dürfen wir gleich begutachten: Ingolf, gebürtig aus Wismar und aktuell Student der öffentlichen Verwaltung an der Hochschule in Güstrow, führt uns durch die Stadt. Schließlich stehen wir vor dem neuen Spielplatz am alten Hafen. Diesen haben die Mitglieder des KiJuPa aktiv mitgestaltet: Ihre Wünsche und Bedenken haben sie beim Bauamt vorgetragen, tatsächlich wurde fast alles umgesetzt. „Nur die Plakette, dass das KiJuPa an der Umsetzung beteiligt war, fehlt“, erklärt uns Yves, ein Mitglied des Jugendparlaments.

Viele verlassen die Stadt

Von Ingolf erfahren wir mehr über die Perspektiven für junge Menschen in Wismar. Hauptarbeitgeber sind die große Werft sowie ein Sägewerk. Das überschaubare Job-Angebot hat Konsequenzen, erklärt uns Ingolf: „Viele ziehen für Studium und Ausbildung weg, nur wenige kommen wieder“, sagt er. Deshalb sei die Arbeit des Kreisjugendrings so wichtig. Ingolf war 2011 Gründungsmitglied des Kinder- und Jugendparlaments.

Am nächsten Tag wird’s abenteuerlich: Wir machen eine Paddeltour auf dem Schweriner See und lernen, wie es ist, ein Boot über ein Kauderwelsch aus Hebräisch, Deutsch und Englisch zu steuern.

Der letzte Abend zeigt dann, was diesen Austausch so wertvoll macht. Nach einem Trommelworkshop unter freiem Himmel schmeißen wir den Grill an und machen eine ausführliche Feedback-Runde. Der Abschied der Jugendlichen ist lang und tränenreich auf dem bereits im Dunkeln liegenden Parkplatz. Und dann fällt plötzlich auf: Wir waren so in unsere Gespräche vertieft, dass wir völlig vergessen haben, ein letztes Gruppenbild zu machen! Das holen wir mithilfe der Straßenbeleuchtung schnell nach, anschließend werden noch Instagram-Namen und Telefonnummern ausgetauscht.

Zurück in die Hauptstadt

Auf die israelischen Gäste wartet noch ein Kontrastprogramm zum idyllischen Wismar: Die Hauptstadt ruft!

Und aufregend bleibt das Programm natürlich auch. Wir sind zu Gast beim KIMBAexpress, einer Küche, die sich in einem alten Bahnwaggon befindet. Hier lernen Kinder und Jugendliche, wie man gesund kocht.

Vera Firnhaber leitet das Projekt. „Das gemeinsame Kochen hat so viele Lerneffekte für junge Menschen“, berichtet sie. „Teamarbeit, gesunde Ernährung und kultureller Austausch, das alles findet hier drin statt. Das ist jedes Mal schön zu sehen.“

Einblicke in die Arbeit der Berliner Tafel

Der KIMBAexpress ist ein Projekt der Berliner Tafel, entsprechend kann Vera auch Einblicke in die Arbeit der Tafel geben. „Mit der Corona-Pandemie haben sich unsere Bedarfsgruppen zum ersten Mal deutlich verändert“, erzählt sie. Vor der Pandemie seien vor allem Obdachlose zu den Ausgabestellen gekommen, während der Pandemie deutlich mehr Rentner*innen und Familien. Auf den Ansturm waren die Tafeln nicht vorbereitet. Erschwerend kam hinzu, dass viele der ehrenamtlichen Helfer*innen zur vulnerablen Bevölkerungsgruppe gehörten – nämlich zu den Senior*innen.

Im vergangenen Jahr mussten sich die Ehrenamtlichen einer weiteren Herausforderung stellen: „Mit dem Krieg in der Ukraine hatten wir nach 2015 zum zweiten Mal zahlreiche Geflüchtete, die wir versorgen mussten, überwiegend Frauen und Kinder“, sagt Vera. Inzwischen habe sich die Situation wieder entspannt. Trotzdem merke die Tafel angesichts der anhaltenden Inflation, dass weiterhin viele Familien auf ihre Arbeit angewiesen sind. „Ich muss keine Zahlen sehen, um zu wissen, dass die Kinderarmut steigt“ – Vera wirkt ernsthaft besorgt.

Die israelischen Gäste sind tief beeindruckt von der Arbeit der Tafel, denn ein vergleichbares Projekt gibt es in ihrer Heimat nicht. Bedürftige hingegen gebe es durchaus, berichten sie. Mit neuer Inspiration und einem Rezeptbuch in der Tasche geht es weiter.

Im Haus der Wannsee-Konferenz

Am Sonntag, dem vorletzten Tag des Austauschs, steht ein Programmpunkt an, der für alle Beteiligten nicht leicht ist. Wir besuchen die Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz.

In dieser Villa trafen sich am 20. Januar 1942 fünfzehn hochrangige Vertreter der nationalsozialistischen Regierung und SS-Behörden, um den bereits begonnenen Holocaust an den Juden zu organisieren.

Die Ausstellung ist bedrückend, zeigt sie doch, wie Unfassbares zur Realität wurde. Beiden Seiten, israelischen und deutschen Jugendlichen, fehlen oft die Worte. Die Rückfahrt in die Stadt ist deshalb von Schweigen und den eigenen Gedanken geprägt. „Nie wieder“ – das ist wohl der zentrale Gedanke in den Köpfen der Gastgeber.

Es ist doch immer dasselbe, denke ich mir: Man steckt all diese Arbeitsstunden in die Planung und Organisation des Austausches, freut sich ein Jahr auf die Gäste und hofft, dass alles gut abläuft. Und dann sitzt man auch schon wieder in der S-Bahn zurück zum Flughafen.

Eine Klimaanlage ist diesmal nicht erforderlich, die Abendluft ist kühl. Wir sind voll mit neuen Eindrücken, haben neue Freundschaften geschlossen und nehmen die eine oder andere neue Idee für die Verbandsarbeit mit.  

Nach dem Austausch ist vor dem Austausch: Im nächsten Jahr sind wir wieder dran und werden uns auf dem Weg nach Israel machen – die Vorfreude ist schon da.

Text: Viktoria Matzen