• Ein orthodoxer Jude geht durch die Altstadt von Jerusalem.
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Austausch mit Israel

Gelobtes Land der Gegensätze

Eine einzigartige Geschichte und ein komplizierter Mix von Religionen und Ethnien – in Israel, dem „gelobten Land“ der Gegensätze, ist es vor allem die Jugendarbeit, die den schmalen Grat zwischen Vielfalt und friedlicher Integration Tag für Tag ein bisschen breiter macht.

Zehn junge Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus den Reihen der dbb jugend reisten Mitte Oktober 2022 für eine Woche nach Israel und nahmen damit den während der Corona-Pandemie zum Erliegen gekommenen traditionellen Jugendaustausch mit dem Land zwischen drei Meeren endlich wieder auf.

Im Fokus standen diesmal insbesondere die religiöse Diversität und die darauf zielenden Integrationsstrategien der Jugendarbeit in Israel angesichts der zum Teil weiterhin sehr verhärteten religiösen und ethnischen Fronten. In Vorträgen und direkten Gespräche mit den verschiedenen Religionsgruppen sammelten die jungen Gewerkschafter*innen aus Deutschland wertvolle Erkenntnisse, die sie auch in ihrer Jugend- und Verbandsarbeit aufgreifen werden.In der Hafenstadt Haifa bekam die Gruppe einen ersten Eindruck von der religiösen Diversität Israels und wie sich diese auf das Leben der Bevölkerung auswirkt. Haifas gemischte Stadtbevölkerung aus Juden und Arabern ist eine der wenigen ihrer Art im Land. Besonders macht die Stadt zudem, dass sich hier auch Anhänger der Bahai-Religion niedergelassen und die Stadt zu ihrem weltlichen Zentrum erklärt haben.

In Safed ging es am nächsten Tag um die Immigration von Juden nach Israel ab den späten 1940er Jahren. Während die Stadtbevölkerung Safeds bis 1948 überwiegend muslimisch geprägt war, ist sie heute fast ausschließlich jüdisch. Insbesondere ultraorthodoxe Juden haben sich hier – in einer der vier heiligen Städte des Judentums – niedergelassen und es zu einem Zentrum für jüdische religiöse Studien gemacht. Für die Partnerorganisation der dbb jugend in Israel, das „Israeli National Youth-Beitar Movement“ (NOaR), ist es sehr schwer, ultraorthodoxe Kinder und Jugendliche für ihre Arbeit zu gewinnen, da sich dieser Teil der Gesellschaft sehr abkapselt und auch von der israelischen Regierung weitestgehend in Ruhe gelassen wird. Gleichzeitig wird die Zahl der Ultraorthodoxen in den nächsten Jahren aufgrund des Kinderreichtums stetig steigen, sodass zukünftig ein gewisser Grad an Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nahezu unvermeidbar ist. „Für dieses sensible Thema wird in Zukunft eine Lösung gefunden werden müssen“, schloss dbb jugend Chef Matthäus Fandrejewski, der die Delegation begleitete.

Arbeit verbindet

Wie die Integration aller Religionsgruppen und Ethnien im Arbeitsleben funktioniert, sahen sich die jungen Gewerkschafter*innen im Unternehmen „Zoglovac“ an – einem der größten Wurstfabrikanten des Landes. In der Fabrik arbeiten Juden, Muslime, Christen und Drusen Seite an Seite. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit werde ein hohes Maß an Toleranz benötigt, erklärte der Personalleiter, sowohl seitens der Belegschaft als auch bei der Unternehmensführung. Besonders hier müsse ein sensibles Gespür für die Bedürfnisse der säkularen wie gläubigen Arbeitnehmende vorhanden sein. So ist es in Israel beispielsweise selbstverständlich, dass Arbeitnehmende die ihrer Religion zugehörigen Feiertage ohne Probleme und vorherige Beantragung wahrnehmen dürfen. Gleiches gilt für die verschiedenen Gebetszeiten. Lediglich zum Schabbat und über die höchsten jüdischen Feiertage ist die Fabrik für alle geschlossen. Im Gespräch mit jungen Arbeitnehmenden wurde deutlich, dass das Thema Religion und Ethnie im Arbeitsleben keine Rolle spielt. Da sich immer mehr junge Israelis als säkular identifizieren, dürften zumindest bei der beruflichen Integration aller Religionsgruppen und Ethnien keine gravierenden Probleme zu erwarten sein.

Integration über gemeinsame positive Erlebnisse

Diffiziler gestaltet sich die Integrationsarbeit im Jugendbereich. In Akkon berichteten Daniel Zelikovich und Nicolle Leschinsky von der NoAR-Ortsgruppe, dass Juden und Araber zwar gemeinsam in gemischten Vierteln leben, was sich auch in der Zusammensetzung der Jugendarbeitsgruppen wiederspiegele. Allerdings würde bewusst nur selten über den Israel-Palästina-Konflikt gesprochen, politische Diskussionen würden gemieden, um keine Spaltung zu provozieren. Vielmehr werde darauf gesetzt, Integration über gemeinsame positive Erlebnisse der Jugendlichen zu schaffen. Aktivitäten wie Müllsammelaktionen und das gemeinsame Engagement für den Klimaschutz stellen einen festen Bezugspunkt im Leben der Jugendlichen dar und tragen positiv zu ihrer Persönlichkeitsentwicklung und partnerschaftlichen Beziehungen untereinander bei.

Junge Menschen engagieren sich freiwillig

Eine große Bedeutung hat ehrenamtliches Engagement in der israelischen Gesellschaft. Auch viele Jugendliche entscheiden sich dazu, ihren – für Juden verpflichtenden – Militärdienst um ein Jahr zurückzustellen und stattdessen ein soziales Jahr im Dienst der Gesellschaft zu absolvieren. Dies wird von NoAR im Auftrag der Regierung angeboten und erfreut sich großer Beliebtheit. Die jungen Menschen, die sich für dieses Programm entscheiden, gehen dann ein Jahr ehrenamtlichen Aktivitäten nach, wie der Betreuung der Kinder- und Jugendgruppen oder Engagement in anderen Bereichen wie eben der zuvor beschriebenen Nachhaltigkeit oder Seniorenarbeit. Zudem organisieren sie gemeinsame Aktivitäten und Aktionen, um die Beziehung untereinander zu stärken.

Irrationale Diskriminierung

Beim Besuch am See Genezareth ging es um die Rolle der Christen in Israel. In den religiösen Konflikten des Landes spielen sie kaum eine Rolle. Allerdings sehen sich christliche Araber aufgrund ihres Aussehens oft Diskriminierung ausgesetzt. Gerade unter strenggläubigen Juden werden Araber mit Muslimen gleichgesetzt und verkörpern ein Feindbild. Gleichzeitig akzeptieren einige radikale Muslime arabischer Herkunft christliche Araber kaum bis gar nicht. Christliche Araber werden hier aufgrund ihrer Ethnie in den Konflikt gezogen. „Diese komplexe irrationale Diskriminierung ließ uns tatsächlich sehr nachdenklich zurück“, berichtet dbb jugend Chef Fandrejewski. „Es zeigt sich, dass die Integration im Arbeitsleben und auf zivilgesellschaftlicher Ebene zwar funktioniert, die Konflikte unter der gesellschaftlichen Oberfläche – gerade in radikalen Bereichen – aber noch sehr präsent sind.“

Mit den Drusen lernten die jungen Gewerkschafter*innen aus Deutschland eine weitere religiöse und ethnische Minderheit unter den arabischen Bürgern Israels kennen. Die drusische Religion hat ihre Wurzeln im Islam, wobei sich Drusen nicht als Muslime identifizieren. Die Drusen leben hauptsächlich im Norden des Landes, sprechen Arabisch und sind dem Staat Israel gegenüber sehr loyal. Auch wenn es ihnen freigestellt ist, in der israelischen Armee den Militärdienst zu absolvieren, tun sie dies in großer Mehrheit. Die jungen Deutschen erfuhren, dass die Drusen eine sehr ambivalente Religionsgemeinschaft sind – grundsätzlich werden bei ihnen Frauen und Männer gleichberechtigt behandelt, der Bildungsgrad innerhalb der Gemeinschaft ist überdurchschnittlich hoch, und einige Mitglieder haben mittlerweile Spitzenpositionen in der israelischen Politik sowie im öffentlichen Dienst erlangt. Gleichzeitig sind die religiösen Oberhäupter jedoch ausschließlich Männer, und die Haltung gegenüber homosexuellen Mitgliedern und solchen, die eine Ehe mit einer nicht-drusischen Person eingehen, ist bisweilen sehr kritisch. Da sich aber auch die Drusen zunehmend säkularisieren und das demokratische Wertebewusstsein unter ihnen sehr groß ist, erwartet man auch in diesen Punkten eine künftig tolerantere Haltung.

Junge Beduinen: Wege aus der Wüste

Positive Entwicklungen Richtung Integration und Teilhabe zeigten sich beim Besuch eines Beduinendorfs in der Wüste Negeb, wo es ebenfalls eine NoAR-Ortsgruppe gibt. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zogen die arabischen Hirtenstämme noch umher, sind aber mittlerweile in – teilweise von Israel als illegal angesehenen – Städten und Dörfern dauerhaft in der Wüste Negeb niedergelassen, als Teil der muslimischen Minderheit. Beduinen, die in den bisher noch als illegal angesehenen Siedlungen leben, sind meistens nicht an das Wasser-, Strom- oder Müllabfuhr-Netzwerk angeschlossen. Die beduinische Gemeinschaft ist sehr traditionell und konservativ geprägt, man lebt immer noch unter sehr starren Hierarchien und Rollenbildern. Faiz Abwrahbeah hat es in dem Dorf mit viel Geduld, Aufklärung und Vertrauen geschafft, jeweils eine NoAR-Ortsgruppe für Jungen und für Mädchen zu gründen.

Da die Jugendlichen erst in der weiterführenden Schule auf gemischte Schulen in den größeren Städten gehen, ist die Beschäftigung, die die Organisation anbietet, ein essenzieller Bezugspunkt im Leben der Kinder und Jugendlichen. Sie erlangen dort soziale Fähigkeiten und ein demokratisches Werteverständnis, lernen verschiedene Bildungs- und Berufsperspektiven kennen. Langfristig strebt die Jugendarbeit mit den Beduinen einen weiteren Abbau von geschlechterspezifischen Ungleichheiten an, wobei es den Beteiligten klar ist, dass dieser nicht an den Kindern und Jugendlichen selbst scheitere, sondern an den konservativen Wertevorstellungen der Eltern. NoAR geht hier sehr sensibel vor, um den bereits erreichten Fortschritt nicht zu gefährden. Seit kurzem ist es erfreulicherweise schon möglich, dass auch Mädchen bei Ausflügen, zum Beispiel zu Zeltlagern in anderen Teilen des Landes, mitfahren dürfen – auch wenn sie nicht mit den Jungen in den Zeltlagern übernachten dürfen, ist dies bereits ein enormer Fortschritt.

Perspektiven für Geflüchtete: schwierig

Einblicke in die Flüchtlingspolitik Israels brachte der Besuch des Flüchtlingsprojekts „Kuchinate“, wo aus Afrika geflüchtete Frauen durch die Herstellung und den Vertrieb handgefertigter Produkte und Kunstobjekte lernen, wie sie wirtschaftlich und sozial unabhängig werden können. Gleichzeitig versucht das Projekt Verbindungen zur israelischen Gesellschaft herzustellen und Öffentlichkeit für die Situation der Flüchtlinge in Israel zu schaffen, denn bislang leben Geflüchtete in Israel weitab von der Mehrheitsgesellschaft in nahezu abgeschotteten Nachbarschaften in bescheidenen Verhältnissen.

Selbst Geflüchtete, die bereits seit über einem Jahrzehnt im Land sind, verfügen über keinen langfristigen Aufenthaltsstatus. Das macht es für sie sehr schwierig, eine berufliche Perspektive aufzubauen. Nur sehr wenige Berufe im Niedriglohnsektor stehen Geflüchteten unter gewissen Umständen offen. In der öffentlichen Debatte Israels spielen Geflüchtete und der Umgang mit ihnen kaum eine Rolle. Durch die fehlende Öffentlichkeit ist das Akquirieren von Spendengeldern für Projekte wie „Kuchinate“ mühsam, eine staatliche Förderung der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit fehlt komplett. Hinzu kommt eine sehr restriktive Einwanderungspolitik Israels, die objektiv betrachtet eine soziale wie berufliche Integration sehr schwierig bis unmöglich macht.

Die in der Austauschwoche gewonnenen Erkenntnisse über die Diversität Israels erlebte die deutsche Delegation in Jerusalem, der Stadt, die sich Juden und Palästinenser mehr oder weniger friedlich teilen, dann schließlich noch einmal konzentriert: Das Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen und Ethnien funktioniert zwar, ist aber dennoch sehr fragil.

Intensiv erlebten die jungen Gewerkschafter*innen auch ihren Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. „Hier wird uns eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, unsere vielfältige Gesellschaft und unser demokratisches Wertesystem zu erhalten und immer wieder dafür einzutreten“, betonte dbb jugend Chef Matthäus Fandrejewski. Der Jugendaustausch mit Israel sei in diesem Zusammenhang ein wertvoller Baustein, „und wir freuen uns sehr, im nächsten Jahr endlich wieder eine Gruppe aus Israel bei uns in Deutschland begrüßen zu dürfen, um unsere besondere Verbundenheit, das gegenseitige Verständnis für Gesellschaft und Kultur zu vertiefen.“