• Das Gründungsteam von SUMM AI: Vanessa Theel, Nicholas Wolf und Flora Geske (von links). Foto: SUMM AI

Künstliche Intelligenz

Leichte Sprache auf Knopfdruck: Wie ein Start-up für verständlichere Texte sorgt

Gründe sind Lernschwächen und kognitive Behinderungen: Bis zu 20 Millionen Menschen in Deutschland können komplexe Texte nicht verstehen. Ein Münchener Start-up setzt auf Künstliche Intelligenz.

In der Tech-Branche ist die Garage ein Mythos. Sie ist der Ort, an dem neue Ideen geboren werden. Wo die Geschichten von Microsoft, Apple und Google beginnen. Diese Silicon-Valley-Folklore ist wohl der Grund, warum Flora Geske oft nach dem Gründungsort von SUMM AI gefragt wird. „Wir hatten keine Garage, sondern ein Büro“, antwortet sie. Dieses Büro befindet sich in der Technischen Universität München. Dort hat Geske Wirtschaftsinformatik studiert, gemeinsam mit Vanessa Theel und Nicholas Wolf.

Im April 2022 gründete das Trio das Start-up „SUMM AI“; Flora Geske ist Geschäftsführerin. Das Produkt: eine Künstliche Intelligenz, die Texte in leicht verständliche Sprache übersetzt und bereits in der öffentlichen Verwaltung zum Einsatz kommt. Unter den mehr als 70 Lizenzkunden sind Städte und Kommunen in ganz Deutschland, darunter Hamburg, Aachen und Aschaffenburg. Inzwischen hat das Start-up eigene Büros im Münchener Stadtteil Sendling bezogen. 15 Mitarbeitende setzen sich mit Sprache auseinander, treiben die technische Entwicklung des Tools voran und kümmern sich um den Vertrieb. Dass es einen Bedarf für Leichte Sprache gibt, hat Geske bereits früh im eigenen Familienkreis erfahren.

Das Problem: Nicht alle können teilhaben

Ummelden, heiraten, einen Personalausweis beantragen. Informationen zu Schulen, Kindertagesstätten, Sport- und Kultureinrichtungen. Schreiben vom Finanzamt, Wahlbenachrichtigungen, im Extremfall auch überlebenswichtige Mitteilungen, etwa zu Hochwasserlagen oder Infektionsschutz – es gibt unzählige Anlässe, weshalb Behörden mit der Bevölkerung in Kontakt treten. Und das über ganz unterschiedliche Kanäle: Briefe, E-Mails, Flyer, Videos, Websites.

„Es ist ein großes Problem, dass die Kommunikation nicht immer für alle verständlich ist“, betont Geske. Menschen mit Behinderungen oder Lernschwächen seien in der Praxis oft ausgeschlossen. Dabei schreibt die UN-Behindertenrechtskonvention, die bereits seit 2008 gilt, einen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Informationen vor. Wie wichtig das für Betroffene ist, hat die gebürtige Berlinerin schon in der Kindheit erfahren: Ihre Tante ist wegen einer Behinderung auf Leichte Sprache angewiesen. „Sie interessiert sich wahnsinnig für Politik, das ist ihr Steckenpferd“, erzählt Geske. „Aber ohne fremde Unterstützung kann sie sich nicht informieren.“

Doch auch alle, die nur wenig Deutsch verstehen, stehen im Alltag vor sprachlichen Hürden – zum Beispiel eingewanderte Fachkräfte, Geflüchtete, Studierende aus dem Ausland. Auch in diesen Fällen kommt Texten in Leichter und Einfacher Sprache eine große Bedeutung zu, berichtet die 30-jährige Geschäftsführerin. Ein weiteres Szenario: „Selbst wer einen hohen Bildungsgrad hat, muss sich bisweilen durch Behördeninformationen wühlen, um alles zu verstehen. Vor allem juristische Sprache ist sehr komplex.“

Die Idee: Von der Uni zur Unternehmensgründung

Vanessa Theel ist Mathematikern, Nicholas Wolf Informatiker und Flora Geske Wirtschaftsinformatikerin – sie haben sich im Masterstudiengang „Finanz- und Informationsmanagement“ an der Technischen Universität München kennengelernt, der alle drei Disziplinen vereint. „Das Studium bietet viel Raum, um sich zu vernetzen und voneinander zu lernen“, berichtet Geske. Ihre Abschlussarbeit schreibt sie gemeinsam mit Theel. Leitfragen: Wie kann Künstliche Intelligenz die Gesellschaft weiterbringen? Und wie lässt sich die Technologie sozial nutzen? „Wir haben festgestellt, dass bereits sehr viel möglich ist, wenn es um das Verständnis und die Produktion von Texten geht.“

Nach dem Studium fällt der Entschluss, ein Unternehmen zu gründen – „dabei war unsere Motivation nie die Unternehmungsgründung selbst“, erzählt die Geschäftsführerin. „Unsere Motivation war, mithilfe von Künstlicher Intelligenz für mehr Barrierefreiheit zu sorgen. Das hat sich bis heute nicht geändert.“

Die Gründung ist für alle Beteiligten ein Sprung ins kalte Wasser. Überall lauern offene Fragen: Wie funktioniert das eigentlich? Wie bekommen wir Kapital? Und woher Büroräume? Antworten liefert ein Programm, das erforderliches Wissen für Existenzgründungen vermittelt. Das Trio erhält ein Stipendium und kann sich in Vollzeit auf das Vorhaben konzentrieren. Die Universität stellt ein Büro zur Verfügung. Hier entwickeln und programmieren Geske, Theel und Wolf den ersten Prototypen der Künstlichen Intelligenz. Sie setzen sich intensiv mit Sprache auseinander und arbeiten eng mit Übersetzer*innen zusammen, die sich auf Texte in Leichter Sprache und Einfacher Sprache spezialisiert haben. „Leichte Sprache zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es keine Nebensätze gibt“, erklärt Geske. „Die Wortwahl entspricht dem Level A1 bis A2 des europäischen Referenzrahmens für Sprachen.“ Einfache Sprache hingegen lasse etwas mehr Komplexität zu.

Das Tool: Was die Künstliche Intelligenz leistet

Es gibt verschiedene Merkmale, die Sprache komplex und damit weniger verständlich machen. Dazu gehören lange Schachtelsätze, abstrakte Formulierungen, die Verwendung von Passiv und Fremdwörtern. „In Behörden kommen viele Begriffe zum Einsatz, die für die Beschäftigten selbstverständlich sind, aber nicht für Außenstehende“, sagt die ausgebildete Wirtschaftsinformatikerin. Mit ihrem Team hat sie die Künstliche Intelligenz so trainiert, dass sie die Merkmale erkennt und in der Lage ist, sie in verständlichere Sprache umzuwandeln. Das war mit vielen Herausforderungen verbunden, denn Sprache ist nun einmal sehr komplex – Beispiele: „Die KI musste lernen, dass es eine Bank gibt, auf der man sitzt, und eine, bei der man Geld abhebt. Oder dass man über den Kantstein stolpern kann, aber eben auch gedanklich.“

Wie die Technologie in der Praxis funktioniert? Das Tool lässt sich über den Internetbrowser öffnen; bei manchen Behörden, die es bereits verwenden, ist es direkt ins IT-System integriert. Das Prinzip erinnert an Übersetzungsprogramme wie DeepL oder Google-Übersetzer: Links erfolgt die Eingabe des Originaltextes, rechts erscheint der übersetzte Text – wahlweise in Leichter oder Einfacher Sprache. Unten können die Nutzer*innen ihr Feedback zum Ergebnis abgeben. Jeder Hinweis kann helfen, die KI zu verbessern.

„Wer das Tool zum ersten Mal nutzt, wird sich wahrscheinlich erst einmal an die Leichte Sprache gewöhnen müssen“, sagt Geske. Die KI spaltet komplexe Schachtelsätze in einfache Hauptsätze und listet sie untereinander auf, vom Stil her ähnlich wie Aufzählungen mit Spiegelstrichen. Übrig bleiben die konkreten Kernaussagen des Textes. „Letztlich ist es genau das, was wir wollen und was einfache Sprache auszeichnet.“

Stimmen alle Informationen? Fehlen möglicherweise Details? Gibt es Redundanzen? Für SUMM AI spielt eine aufgeklärte Nutzung der Technologie eine große Rolle. Heißt: nicht die KI entscheidet, ob die Inhalte eines Textes korrekt wiedergegeben sind, sondern der Mensch. Deshalb sind Behörden und Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, die über die inhaltliche Expertise zum Text verfügen, Zielgruppe für das Tool – es im großen Stil Menschen mit Behinderungen oder Lernschwächen zur Verfügung zu stellen, sei aktuell kein Thema. „Wir sehen die Zuständigkeit, Sprachbarrieren abzubauen, klar bei der Verwaltung“, unterstreicht Flora Geske. „Denn dazu ist sie gesetzlich verpflichtet. Wir kümmern uns um die Leichte Sprache, die Nutzenden stellen den faktisch korrekten Inhalt sicher.“ Derzeit müssten Behörden Übersetzungen von Texten in Leichte und Einfache Sprache händisch in Auftrag geben. Dies sei oft zeit- sowie kostenintensiv und lasse sich durch den Einsatz der KI vermeiden.

Das Ergebnis: So sieht ein Text in Leichter Sprache aus

SUMM AI und die Hamburger Verwaltung verbindet eine enge Zusammenarbeit – die Hansestadt ist Pilotstadt für das Übersetzungstool. Auf hamburg.de sind Texte auch in Leichter Sprache verfügbar. Wer – aus welchem Grund auch immer – vor Sprachbarrieren steht, kann sich über sämtliche Themen des Alltags informieren. Auch das Konzept, das hinter der Leichten Sprache steckt, wird erklärt. Selbstverständlich in Leichter Sprache. Unter anderem heißt es:

Wir erklären Sachen in Leichter Sprache.
Die Erklärungen stimmen.
Die Erklärungen sind aber nicht rechts-verbindlich.
Manchmal haben wir Sachen einfacher geschrieben.
Oder Sachen nicht erklärt:
Die sehr selten sind.
Der genaue Text von Gesetzen
steht nicht bei den Erklärungen.
Der Text in Leichter Sprache würde sonst zu lang.“

Neben dem Textblock ist eine Rechtsanwältin zu sehen, an der schwarzen Robe und einem Gesetzbuch in der Hand deutlich erkennbar. Auch neben anderen Texten in Leichter Sprache gibt es Abbildungen, die den Inhalt des Textes symbolisieren und es somit erleichtern, ihn zu erfassen. „Die passenden Bilder schlägt künftig die KI vor“, berichtet Flora Geske. Die Mitarbeitenden in den Pressestellen der Behörden müssen nicht mehr aufwendig in Datenbanken suchen, sondern nur noch das passende Foto auswählen. Hierfür haben SUMM AI und die Hansestadt im Juni 2023 sogar einen Preis bekommen: Die Civic Innovation Platform (CIP) – das ist die Denkfabrik des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – zeichnete das Konzept auf der re:publica als eine von 27 Projektideen aus, die dazu beitragen, KI gewinnbringend in die Gesellschaft einzubringen.

Wie es mit SUMM AI weitergeht? Geske, Theel und Wolf haben noch viel vor. Sie konnten Geldgeber von ihren Ideen überzeugen, die zuletzt eine siebenstellige Summe investierten. „Menschen mit kognitiven Behinderungen oder Lernschwächen können oft nicht selbst aufstehen und für ihre Rechte eintreten“, betont die Geschäftsführerin. „Deshalb wollen wir unser Tool bekannter machen und für mehr Barrierefreiheit sorgen.“

Text: Christoph Dierking