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Gülcan Yoksulabakan-Üstüay ist Referentin für Diversity-Management bei der Hansestadt Bremen. Foto: CHRISTINA KUHAUPT
InterviewSo kann der öffentliche Dienst von mehr Diversität profitieren
Nicht bloß Gendersternchen: Diversität betrifft Menschenrechte, Personalsuche, aber auch Krisenkommunikation. Eine Expertin aus Bremen schildert, was es mit den verschiedenen Dimensionen auf sich hat.
Bevor das Interview beginnt, winkt ihre Tochter fröhlich in die Kamera: Gülcan Yoksulabakan-Üstüay arbeitet im Homeoffice, die Vereinbarkeit von Berufsleben und Familie ist ihr ein zentrales Anliegen. Sie ist Referentin für Diversity-Management im Aus- und Fortbildungszentrum des öffentlichen Dienstes (AFZ) in Bremen, dort kümmert sie sich ressortübergreifend mit einem Kollegen um das Thema Diversität in der Hansestadt. Im Interview gibt sie Einblicke in ihren Arbeitsalltag – und verrät, was Mückenstiche mit Diversität zu tun haben.
Zur Person
Gülcan Yoksulabakan-Üstüay arbeitet seit 2014 für die Hansestadt Bremen. 1997, nach dem Abitur, erhielt sie ein Stipendium der amerikanischen Menschenrechtsorganisation Anti-Defamation League, die junge Menschen zum Thema Diversität schult. „Damals wurde uns gesagt, dass sich die Ideen in etwa zehn Jahren in Europa verbreiten würden“, erzählt Yoksulabakan-Üstüay. „So ist es gekommen.“ Studiert hat Yoksulabakan-Üstüay interkulturelle Kommunikation und Pädagogik mit dem Schwerpunkt Migration.
#staatklar: Frau Yoksulabakan-Üstüay, es gibt viele Menschen, die sich unter Diversity-Management nichts vorstellen können. Was verbirgt sich hinter dem Begriff?
Gülcan Yoksulabakan-Üstüay: Ganz grundsätzlich handelt es sich um eine soziale Praxis, bei der es darum geht, Kategorien aufzulösen, in die Menschen einsortiert werden. Diversity-Management unterscheidet nicht zwischen „Wir“ und „die Anderen“. Dabei rücken sechs Dimensionen in den Fokus, die sich an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz anlehnen. Das sind: Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft und Hautfarbe, Behinderung, Religion oder Weltanschauung sowie sexuelle Identität und Orientierung. Wir in Bremen haben zusätzlich die Dimension der sozialen Herkunft in das Konzept aufgenommen – im Übrigen lange vor der Charta der Vielfalt, was ich bemerkenswert finde. Für uns war es immer wichtig, die soziale Herkunft mitzudenken, insbesondere im Bildungsbereich.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Nicht nur in Bremen leben Kinder in Familien, die in ihrer Wohnung keinen Platz für einen Schreibtisch haben. Ihnen fehlt ein Ort zum Lernen. Wenn ich dieses Problem von Anfang an berücksichtige, habe ich schneller Lösungen parat – in diesem Fall könnten Schulen nachmittags Lernräume zur Verfügung stellen. In vielen Behörden haben die Menschen einen akademischen Hintergrund, in ihrem Umfeld gibt es in der Regel niemanden, der in der Wohnung keinen Platz für einen Schreibtisch hat. Deshalb ist es wichtig, dass Diversity-Management die Perspektiven von Menschen in der Gesellschaft einbringt, die in der Verwaltung weniger vertreten sind.
Diversität liegt also ein sehr inklusiver Gedanke zugrunde. Wie kann der öffentliche Dienst langfristig von dem Konzept profitieren?
Langfristig geht es darum, eine von Wertschätzung und Respekt geprägte Führungskultur zu etablieren, eine Kultur der Zusammenarbeit. Das gilt für sämtliche Prozesse.
In Bezug auf die Personalauswahl beschäftige ich mich unter anderem mit der Frage, wie wir Kompetenzen, Stärken und Fähigkeiten von Menschen im Bewerbungsverfahren sichtbar machen können, die nicht in den klassischen Kompetenzprofilen zu finden sind. Heißt: Ist eine Juristin, die sich beim Sozialgericht als Richterin bewirbt und ihr Studium in kürzester Zeit mit hervorragenden Ergebnissen absolviert hat, die beste Wahl? Oder möglicherweise der Kandidat, der etwas schlechter abgeschnitten und länger gebraucht hat, dafür aber in diversen Nebenjobs mit Menschen aus anderen Gesellschaftsschichten zu tun hatte? Ich kenne Jurist*innen, die fachlich hervorragend sind, aber erst lernen müssen, mit Menschen zu sprechen, die prekär leben.
Diversität bei der Personalsuche mitzudenken, ist aus meiner Sicht ganz entscheidend. Wenn der öffentliche Dienst die Vielfalt in der Gesellschaft abbildet, schafft er es, den vielfältigen Aufgaben für die Gesellschaft gerecht zu werden.
Ich glaube, dass junge Menschen in manchen Bereichen mindestens genauso viel Erfahrung haben wie ältere, wenn nicht sogar mehr.
Gülcan Yoksulabakan-Üstüay
Aktuell ist der Fachkräftemangel eine zentrale Herausforderung. Kann mehr Diversität einen Beitrag dazu leisten, den Staat als Arbeitgeber attraktiver zu machen?
Ja, definitiv. Es ist so, dass viele Migrant*innen den öffentlichen Dienst nicht unbedingt von einer positiven Seite kennengelernt haben. Mein erster Berührungspunkt als Kind war das Migrationsamt. Das habe ich in schlechter Erinnerung. Indem wir jetzt aufzeigen, dass die Verwaltung mit dem Thema Migration sensibler umgeht, glaube ich, dass wir wieder Nachwuchskräfte ansprechen, die sich sonst nicht bei uns bewerben würden.
Ein weiterer Punkt: Immer weniger Menschen haben Lust, in hierarchischen Organisationen zu arbeiten. Teil des Diversity-Managements ist auch, die Frage zu stellen: Können wir Hierarchien abflachen? Ist es bei den vielen Anforderungen, die im öffentlichen Dienst auf uns zukommen, überhaupt noch klug, hierarchische Entscheidungen zu treffen? Sicher, es gibt Bereiche, in denen das richtig und gut ist. Aber in allen?
Wo denn nicht?
Aktuell arbeite ich an einer Idee für ein Projekt, in dem unsere jungen Nachwuchskräfte erfahrene Abteilungsleiter*innen beraten sollen. Und zwar zu der Frage, wie es gelingen kann, junge Menschen für den öffentlichen Dienst zu gewinnen und zu halten. Wir tauschen die Rollenbilder, das stellt etablierte Muster infrage. Denn ich glaube, dass junge Menschen in manchen Bereichen mindestens genauso viel Erfahrung haben wie ältere, wenn nicht sogar mehr. Es macht den öffentlichen Dienst als Arbeitgeber attraktiv, wenn er diese Diskurse führt, die normalerweise eher in Start-ups stattfinden.
In der Bremer Verwaltung gibt es Leitfäden für genderrechte Sprache, außerdem setzen Sie unter anderem auf Netzwerke von Mitarbeitenden aus der queeren Community, um deren Perspektiven einzubringen. Nehmen wir die gendergerechte Sprache: Wie gelingt die praktische Umsetzung? Gibt es auch Widerstände?
Ja, manchmal rufen Führungskräfte mich an und fragen, ob ich zur Unterstützung in ihr Team kommen kann. Ich höre mir dann die Bedenken an und sortiere sie ein. Gegebenenfalls üben wir an konkreten Beispielen, etwa das Ansprechen einer Person, die sich weder mit dem weiblichen noch männlichen Geschlecht identifiziert.
Meine Erfahrung ist: Wenn Menschen Unterstützung bekommen und ihnen erklärt wird, wie sie etwas machen können, dann legt sich die Abwehrhaltung. Eine unüberwindbare Spaltung zwischen denen, die Maßnahmen für mehr Diversität befürworten, und denen, die sie ablehnen, erlebe ich nicht. Die Kommunikation ist eben das Entscheidende.
Trotzdem halten viele Menschen Diversitäts-Management für überflüssig. Was entgegnen Sie?
Ich verdeutliche den Sinn der Konzepte an einem Beispiel: Zwei Personen schlafen in einem Zimmer, eine Mücke treibt in der Nacht ihr Unwesen. Er wird gestochen, sie nicht. Er steht auf und jagt die Mücke, sie beschwert sich und sagt, dass es doch gar nicht so schlimm sei. Sie denkt nur an ihre gestörte Nachtruhe – und genau das ist das Problem: Diversity-Management versucht, den privilegierten Menschen im übertragenden Sinne die Mückenstiche von diskriminierten Menschen näherzubringen. Zu übersetzen, zu sensibilisieren.
Mehr entdecken: Outing am Arbeitsplatz – für viele Menschen noch immer ein Problem
Insgesamt geht es bei Diversity – ganz nüchtern betrachtet – nicht zuletzt um die Einhaltung von Menschenrechten. Diversity ergibt Sinn, weil wir einen rechtlichen Auftrag erfüllen. Damit erzielen wir praktische Erfolge: In der Pandemie hat sich ganz konkret gezeigt, wie gewinnbringend es sein kann, die soziale Dimension in der Kommunikation mitzudenken. Kolleginnen und Kollegen waren bei uns in Bremen in der Lage, Sachverhalte in verständliche Sprache zu übersetzen. Das war sicher ein Faktor dafür, dass sich auch in armutsbelasteten Stadtteilen viele Menschen haben impfen lassen.
Abschließend: Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer Gesellschaft, in der sämtliche Diversitätsthemen umgesetzt sind – was ist Ihre Vision?
Ich stelle mir vor, dass der Bürgermeister ein Jahr in Elternzeit gehen kann, wenn er das möchte. Dass viele Männer erkennen, dass Feminismus auch sie etwas angeht – denn Männer haben die höhere Suizidrate, sie sterben früher, haben öfter schwere Suchterkrankungen. Sie können viel von uns Frauen lernen.
Ich stelle mir vor, dass durch künstliche Intelligenz und Digitalisierung mehr Ressourcen für hilfsbedürftige Menschen frei werden. Dass Menschen unabhängig von einer Behinderung Zugang zu allen Räumen des öffentlichen Dienstes haben, auch den digitalen. Dass wir in der Verwaltung verschiedene Sprachen hören. Und letztlich, dass die Mitarbeitenden ihre eigenen Positionen und Haltungen reflektieren und gelebte Diversität eine Selbstverständlichkeit ist.
Interview: Christoph Dierking