Interview mit Gewaltforscher Ulrich Wagner

„Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben“

Foto: Laackman Fotostudios Marburg

Warum greift man gerade die Menschen an, die in ihren Berufen Hilfe leisten? Und wie könnte man Staatsbedienstete besser vor Gewalt schützen? Ein Interview mit Gewaltforscher Ulrich Wagner.

Beschäftigte im öffentlichen Dienst sind häufig Angriffen ausgesetzt. Eine Studie des Bundesinnenministeriums bestätigt: Jede und jeder Vierte erlebt Gewalt. Von Beschimpfungen bis Rangeleien oder sogar das Bewerfen mit Fäkalien. Längst ist bekannt, dass nicht nur die Polizei mit gefährlichen Situationen rechnen muss. Warum greift man gerade die Menschen an, die in ihren Berufen Hilfe leisten? Und wie könnte man Staatsbedienstete besser vor Gewalt schützen?

Antworten auf diese Fragen hat die dbb jugend nrw im Interview mit Ulrich Wagner bekommen. Er gehört zu den Gewaltexperten in Deutschland. Er ist Sozialpsychologe und Seniorprofessor an der Philipps-Universität Marburg und forscht in Themenbereichen wie Intergruppenkonflikte, Aggression und Gewalt. Als Präventionsexperte und Gutachter ist er deutschlandweit tätig.

Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2021 (PKS) beweist über die letzten 15 Jahre hinweg einen Rückgang an physischer Gewalt. Was darum erstaunt: Die Zahl von Übergriffen auf Polizisten, Ordnungsamtsmitarbeiter und andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst hat zugenommen. Wie kann das sein?

Ulrich Wagner: Meist steht dahinter der Verlust einer – wissenschaftlich ausgedrückt – normativen Vorstellung darüber, wie man mit Gewalt umgeht. In einigen Gruppen kann man beobachten, dass Antigewaltnormen nicht mehr so geteilt werden, wie das gesellschaftlich eigentlich der Fall ist, und das sieht man an der PKS.

Warum ist das so?

Ulrich Wagner: Es hat etwas damit zu tun, wie weit man sich selber als Mitglied unserer Gemeinschaft ansieht, des Staatswesens, und damit die Normen dieses Staatswesens insgesamt anerkennt, oder ob man den Eindruck hat: Das ist etwas anderes, das hat mit mir nicht so richtig zu tun und deswegen kann ich mich auch abweichend – in dem Fall gewalttätig – verhalten.

Hintergrund dafür ist, dass Sozialisation nicht richtig stattgefunden hat. Sozialisation besteht ja darin, dass Heranwachsende oder Menschen, die neu hinzukommen, lernen wie man sich in Deutschland verhält. Irgendwann übernehmen sie diese Haltung – zu der Gewaltfreiheit gehört.

Aber was führt dann dazu, dass sich Menschen nicht gewaltfrei verhalten?

Ulrich Wagner: Man kann annehmen, dass es einen Teil in unserer Gesellschaft gibt, der glaubt nichts davon zu haben, sich normkonform zu verhalten. Gegen allgemeine Regeln verstoßen Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Ich konstruiere mal ein extremes Beispiel: Ein Mensch mit Aufenthaltsgenehmigung, dessen Aufenthaltsstatus hier ausläuft, bei dem klar ist, dass er abgeschoben wird. Warum sollte ein solcher Mensch sich normkonform verhalten? Natürlich bedeutet das nicht, dass sich alle Menschen, die in einer solchen Situation sind, nicht normkonform verhalten. Ich beziehe das nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund. Wir haben auch andere Menschen in der Gesellschaft, die das Gefühl haben, nicht richtig mitmachen zu können. Und da läuft etwas falsch.

Wir reden hier über Gewaltübergriffe. Meinen Sie damit auch verbale Gewalt?

Ulrich Wagner: Nein. Meine Definition von Gewalt ist die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und deren Androhung. Da wird jemand verfolgt bis zur Haustür – der wäre auch in meiner Gewaltdefinition drin. Aber wenn jemand dem Schaffner sagt „Du Arsch!“ dann ist das eine üble Beschimpfung, aber es ist keine Gewaltandrohung. Ich glaube, das macht auch mit dem Schaffner etwas anderes, als wenn er bedroht oder körperlich angegriffen wird. Deshalb halte ich das für wichtig, das auseinanderzuhalten.

Sind verbale Ausraster also gar nicht so schlimm?

Ulrich Wagner: Ich möchte Beschimpfungen nicht bagatellisieren. Aber physische Gewalt hat im Unterschied zu verbaler Gewalt andere Konsequenzen für den Schaffner und auch die Ursachen sind unterschiedliche. Deshalb lege ich so großen Wert darauf, das auseinanderzuhalten. Und der juristische Umgang mit physischer Gewalt und Beleidigung sollte auch unterschiedlich sein.

Was meinen Sie damit?

Ulrich Wagner: Ich bin schon seit Jahren unzufrieden damit, dass physische Gewalt vor Gerichten nicht bevorzugt behandelt wird. Wenn jemand zusammengeschlagen wird, dann muss der Täter unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden. Wenn jemand beschimpft wird, ist das auch übel und dem muss auch nachgegangen werden, aber das hat nicht dieselbe Dringlichkeit. Dabei ist es psychologisch betrachtet gar nicht so wichtig, wie hoch die Strafe ist. Viel wichtiger ist, dass die Strafe möglichst unmittelbar auf die Tat erfolgt. Gerade im Jugendstrafrecht dauert es jedoch manchmal ewig, und die jugendlichen Täter können sich, wenn es endlich zum Prozess kommt, schon gar nicht mehr erinnern, worum es eigentlich geht. Das darf nicht sein. Es muss schneller gehen bei Gewalttaten. Dies setzt allerdings hinreichende Stellenausstattung vor allem im Bereich der Staatsanwaltschaften und Gerichte voraus.

Das erweckt jetzt den Anschein, als seien die meisten Täter jung. Ist das denn so?

Ulrich Wagner: Die PKS 2021 zeigt einen Anstieg bei Gewalttaten ab einem Alter von 16 bis 18 Jahren und dann bis ca. 26 Jahre. Ab 28 wird es weniger. Wenn wir über physische Gewalt reden, sind es fast immer junge Männer.

Aber wir haben die Erfahrung gemacht, dass Übergriffe auf Kolleginnen und Kollegen im Öffentlichen Dienst losgelöst vom Alter quer durch alle Alters- und Bevölkerungsschichten ausgehen können.

Ulrich Wagner: Natürlich gibt es solche Situationen: überfüllte Klinik, Eltern mit Kleinkind, Atembeschwerden, kommen in der Notaufnahme nicht dran, weil sie völlig überlaufen ist. Das ist eine Situation, in der es zuweilen zu Ausrastern und Beschimpfungen kommt. Vielleicht sogar zu Übergriffen. Aber ich glaube, dass es im Vergleich zu den anderen beschriebenen Situationen selten vorkommt, dass es dort zu physischen Übergriffen kommt.

In vielen Behörden gibt es präventive Sicherheitskonzepte oder Anti-Gewalt-Erklärungen. Welche Maßnahmen halten Sie für wichtig, um die Situation zu verbessern?

Ulrich Wagner: Über das Thema „unmittelbare Bestrafung von überführten Gewalttätern“ durch die Gerichte sprachen wir schon. Langfristig wirksamer und kostengünstiger als Strafverfolgung und Sanktionierung ist Prävention, die Menschen dazu bringt, freiwillig und aus Überzeugung soziale Normen einzuhalten und sich gewaltfrei zu verhalten.

Dazu eignen sich beispielsweise Konfliktbewältigungstrainings in den Schulen oder Anti-Aggressionstrainings für junge Männer – auch für bereits überführte Straftäter im Strafvollzug. Das Problem: Solche Trainings in Schulen und Berufsschulen sind oft zeitlich befristet. Auch müssen die Angebote besser verknüpft werden, beispielsweise auch durch Sportvereine oder Maßnahmen des Jugendamtes oder freier Träger begleitet werden.

Darüber hinaus müssen wir Prävention noch breiter anlegen. Wenn die beschriebenen merkwürdigen Gewaltausbrüche gegen Rettungskräfte, Feuerwehr und Polizei darauf zurückgehen, dass die Täter in unsere Gesellschaft zu wenig eingebunden sind und Normen zur Gewaltfreiheit nicht verstehen oder nicht akzeptieren wollen, müssen wir für diese Menschen Partizipationsangebote machen, die sie verlieren, weil sie sich abweichend verhalten. Menschen, die keine laute Stimme haben oder viel Geld oder die, die aus anderen Gründen nicht dazugehören, müssen in die Gemeinschaft miteinbezogen werden. Auch sie müssen den Eindruck haben, zum Beispiel an der kommunalen Entwicklung und der des eigenen Umfelds mitbeteiligt zu. Das wird eine wichtige Aufgabe der kommunalen Entwicklungsplanung werden. Ich nenne das „Prävention durch Partizipation“.

Zum Beispiel?

Ulrich Wagner: Ich komme gerade aus einer Konferenz, in der so etwas diskutiert wird: Wie kann man kommunales Konfliktmanagement gestalten, ohne dass die Konflikte eskalieren? Da gibt es Möglichkeiten. Wie kann man Platzgestaltungen in Angriff nehmen, so dass junge Leute etwas davon haben, ohne dass es den Anwohnern auf den Wecker gehen muss, weil es nachts um vier Uhr noch laut ist? Solche Möglichkeiten zur Teilhabe brauchen wir.

Weitere Ideen?

Ulrich Wagner: Zum Dritten kann man sicherlich auch durch Aus- und Fortbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst etwas erreichen. Indem diese noch viel stärker lernen, sich konfliktdeeskalierend zu verhalten. Ich weiß, dass es eine merkwürdige Forderung ist, dem Opfer die Pflicht anzudienen, die Situation zu deeskalieren. Aber ich sehe darin Potenzial. Wie kann man damit umgehen, wenn im Sozialamt der ablehnend beschiedene Empfänger lauter und immer lauter wird?

Viele Beschäftigte können es sich in Anbetracht überquellender Schreibtische zeitlich gar nicht einrichten, zusätzlich solche Trainings zu besuchen. Auch finden sie zu selten statt.

Ulrich Wagner: Natürlich schränkt Überlastung die Freiräume für solche Trainings drastisch ein. Und die Überlastung ist auch in anderer Hinsicht ein Problem: Wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ämtern nur kurz angebunden sind, um einen Fall zu bearbeiten, dann ist das natürlich für Kunden nicht spaßig und erhöht das Konfliktpotenzial. Es trägt zu Eskalation bei.