• Andre Niewöhner koordiniert die Arbeit des Präventionsnetzwerks #sicherimDienst.
    Andre Niewöhner koordiniert die Arbeit des Präventionsnetzwerks #sicherimDienst. Foto: Kreispolizeibehörde Coesfeld

Gewalt gegen Beschäftigte im öffentlichen DienstNiewöhner: „Machen Sie das Thema zum Thema!“

Nachhaltige Prävention ist nur möglich, wenn die Probleme bekannt sind. Worauf es jetzt ankommt, schildert Andre Niewöhner vom Netzwerk #sicherimDienst im Interview.

Vernetzen, Erfahrungen austauschen und so für mehr Sicherheit sorgen – das sind die Ziele des Präventionsnetzwerks #sicherimDienst, das seit 2022 in Nordrhein-Westfalen und mittlerweile auch bundesweit aktiv ist. Dabei stehen alle Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes im Fokus: Egal, ob mit oder ohne Uniform, ob im Außen- oder Innendienst.

Aktuell zählt das Netzwerk mehr als 2.300 Mitglieder. Vorläufer ist ein Projekt, das die Landesregierung Nordrhein-Westfalen auf den Weg gebracht hat. Andre Niewöhner ist seit der ersten Stunde dabei. Hauptamtlich leitet er die Direktion für Gefahrenabwehr und Einsatz bei der Kreispolizeibehörde in Coesfeld, nebenamtlich koordiniert er die Arbeit des Netzwerks.

Im Interview mit #staatklar spricht der Polizeibeamte über besorgniserregende Entwicklungen und gibt Tipps für die Gewaltprävention.

#staatklar: Herr Niewöhner, dass vor allem Einsatzkräfte von Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr häufiger mit Beleidigungen und Gewalt konfrontiert sind, ist inzwischen durch die Berichterstattung bekannt. Welche Berufsfelder sind darüber hinaus betroffen?

Andre Niewöhner: Tatsächlich ist es so, dass es noch viele weiße Flecken gibt. Gesetzliche Initiativen zielen meistens darauf ab, die Sicherheit von Einsatzkräften zu erhöhen, oder die von Politikerinnen und Politikern.

Dabei sollte die Zielgruppe viel größer sein. Übergriffe betreffen Mitarbeitende in den Kommunalverwaltungen, Lehrkräfte, oder – ganz konkret – auch Bademeister. Mittlerweile ist der gesamte öffentliche Dienst betroffen, in verschiedenen Ausprägungen.

Was erleben die Beschäftigten?

Nehmen wir die Beschäftigten im Straßenwesen als Beispiel, die schnell zur Zielscheibe werden, wenn sie Baustellen einrichten oder Straßen reparieren. Frustrierte Autofahrer schimpfen und beleidigen, werfen mit Müll oder Gegenständen. Auch Autos können, unbewusst oder bewusst, zur Waffe werden. Davon geht eine große Gefahr aus.

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Oder schauen wir auf die Post. Manche denken sich: Die Zustellerin soll einfach das Paket bringen und mir sonst nicht auf den Keks gehen. Kommt sie zu spät, hagelt es Beleidigungen. Steht anderswo das Postauto im Weg, wird die Hupe durchgedrückt. Das passiert im Übrigen auch, wenn ein Rettungswagen mit Blaulicht die Straße blockiert und ganz offensichtlich Rettungskräfte im Einsatz sind, um Hilfe zu leisten. Schlimmstenfalls münden all diese Situationen in körperliche Gewalt.

Von welchen Fallzahlen gehen Sie im öffentlichen Dienst aus?

Durch bundesweite Befragungen wissen wir, dass jede vierte Person im öffentlichen Dienst Gewalt erlebt hat. Dabei reicht das Feld von Beleidigungen über Bedrohungen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Das Problem ist: Sieben von zehn Fällen kommen gar nicht erst zur Anzeige, die Dunkelziffer ist hoch.

Gegenseitiger Respekt sollte immer die Prämisse sein! Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst.

Andre Niewöhner

Die polizeiliche Kriminalstatistik erfasst lediglich Taten, die Polizei-, Rettungs- und Feuerwehrkräfte sowie Vollstreckungsbeamt*innen betreffen, darüber hinaus gibt es verschiedene Einzelerhebungen. Viele Berufsgruppen, beispielsweise Beschäftigte im Eisenbahnverkehr, werden nicht erfasst.

Klar, wir brauchen mehr Dokumentation, sonst fischen wir im Trüben. Nachhaltige Prävention ist nur möglich, wenn die Probleme bekannt sind.

Aber entscheidend ist aus Sicht des Netzwerks vor allem die Dokumentation vor Ort – in den Kliniken, in den Ämtern, in den kommunalen Betrieben. Bei Kontaktaufnahmen stellen wir oft fest, dass die meisten gar nicht wissen, was konkret bei ihnen im Haus passiert. Das sollte Priorität haben. Ich kann Betroffene nur ermutigen, in die Kommunikation zu gehen und Vorfälle zu melden.

Wenn die Probleme bekannt sind: Wie sieht nachhaltige Prävention aus?

Über allem steht das Stichwort „Handlungssicherheit“. Heißt: Üben, üben, üben! Die besten Konzepte nützen nichts, wenn sie niemand trainiert.

Grundsätzlich erstreckt sich Prävention über verschiedene Ebenen, sie ist unter anderem personenbezogen. Wer Kundenkontakt hat, sollte sich mit folgenden Fragen befassen: Wie kommuniziere ich eigentlich? Wie gehe ich mit Kritik und Kontroversen um? Lasse ich mich hochschaukeln oder wirke ich deeskalierend? Und was mache ich, wenn eine Situation trotz allem eskaliert?

Eine Option könnte sein, einen Alarmknopf zu drücken oder den Raum durch eine Fluchttür zu verlassen. Damit wären wir auf der technischen beziehungsweise baulichen Ebene.

Wie können Verantwortliche auf der organisatorischen Ebene vorgehen, wenn sie ein Präventionskonzept etablieren wollen?

Im Netzwerk unterscheiden wir zwischen drei Phasen. Zunächst sollte es um die Vorsorge gehen. Diese umfasst zum Beispiel Deeskalationstrainings oder das Einrichten von Alarmsystemen. Wichtig ist auch, dass Zugänge geregelt sind: Es gibt Rathäuser, da können Sie ohne Kontrolle direkt zur Bürgermeisterin durchgehen.

Dann geht es konkret ums Handling bei Sicherheitsstörungen: Wer kommt eigentlich, wenn jemand den Alarmknopf drückt? Der Büronachbar oder der Sicherheitsdienst?

Und zuletzt sollte es eine umfassende Nachsorge geben. Welche Reaktionen folgen? Das Sozialamt in Wuppertal etwa verschickt Briefe, um klarzustellen, dass es bestimmte Verhaltensweisen nicht duldet – und macht damit sehr gute Erfahrungen.

Was ist mit der Nachsorge bei den Mitarbeitenden?

Die ist besonders wichtig. Gerade wenn der Umgang mit aggressivem Verhalten nicht zum Alltag gehört, kann er besonders belastend sein. Aber auch für Polizistinnen und Polizisten, die für solche Situationen ausgebildet sind, wird es mitunter zu viel. Es ist die Aufgabe von Führungskräften, hier genau hinzuschauen.

Der AG Sicherheit der dbb jugend sind Fälle bekannt, in denen Führungskräfte Vorfälle abwiegeln und sagen, „dass es eben zum Job gehört“.

Um es klar zu sagen: Ein solches Verhalten ist aus der Zeit gefallen, da sind wir in der gesellschaftlichen Emanzipation weiter. Grundsätzlich muss sich niemand beleidigen, bedrohen, anspucken oder angreifen lassen. Die Grundhaltung von Führungskräften sollte sein, dass sie offen sind, sich kümmern und hinter ihren Beschäftigten stehen.

Weil ich aus dem Polizeidienst komme, ist mir noch ein Hinweis wichtig: Die Abwägung kann in Einzelfällen schwierig sein. Nicht jedes Sperren ist gleich ein Widerstand, nicht jede Unfreundlichkeit gleich eine Beleidigung. Denn wer lässt sich schon gerne festnehmen?

Auf der Website von #sicherimDienst wird ein Ingenieur mit den Worten zitiert, dass es das Netzwerk eigentlich gar nicht geben sollte, die aktuelle Lage es jedoch erforderlich mache. Wie können wir als Gesellschaft darauf hinarbeiten, dass es gar nicht erst zu Übergriffen kommt?

Gegenseitiger Respekt sollte immer die Prämisse sein! Das gilt für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Wer mit autoritären Gedanken unterwegs ist und die Menschen als Bittsteller sieht, die sich einzureihen haben, vertritt eine Sichtweise, die längst der Vergangenheit angehört.

Eine ähnliche Frage hat mir jemand auf einem Ärztekongress gestellt, wo ich Handlungsempfehlungen für das Gesundheitswesen gegeben habe: „Kann das Problem nicht einfach aufhören?“

Natürlich wäre das ideal. Bloß angesichts der aktuellen Entwicklung wäre es Wunschdenken, sich darauf zu verlassen, dass es von allein so kommt. Deshalb ist die Prävention ein so wichtiger Bestandteil unserer Arbeit.

Aber damit ist es noch nicht getan: Wir müssen die Ursachen genauer erforschen, um die gesellschaftliche Situation nachhaltig zu verbessern. Wenn es zu Übergriffen kommt, muss die Frage immer auch lauten: Was war der Kontext?

Wie kann eine solche Forschung aussehen?

In dem Projekt „AMBOSafe“ wurden Situationen, in denen es zu Übergriffen gekommen ist, umfassend analysiert. Was ist genau passiert? Wie sind die Beteiligten mit der Situation umgegangen? Was hat sich bewährt und was hätte man besser machen können?

Entstanden ist ein Erfahrungsschatz, von dem heute das gesamte Netzwerk profitiert.

Tiefer einsteigen? Hier gibt’s die Ergebnisse des Projekts „AMBOSafe“ zum Nachlesen. Das Kürzel steht für „Angriffe auf Mitarbeiter*innen und Bedienstete von Organisationen mit Sicherheitsaufgaben.“

Und hier geht’s zum Netzwerk #sicherimDienst.

Nehmen wir an, jemand arbeitet in einer Behörde, in der die Prävention nur unzureichend ist. Was würden Sie der Person mit auf den Weg geben?

Mein wichtigster Rat: Machen Sie das Thema zum Thema! Das ist der erste Schritt. Wer am Ball bleibt und immer wieder hartnäckig nachfragt, wird Veränderungen bewirken, da bin ich mir ganz sicher. Stichwort Ärztekongress: Dort werden jetzt Gewaltschutztrainings angeboten …

Interview: Christoph Dierking