Welche Erkenntnisse liefern aktuelle Studien über Gewalt gegen Frauen? Und was unternimmt die Politik? Eine Bestandsaufnahme.
US-Filmproduzent Harvey Weinstein, von Gerichten wegen sexueller Gewalt und Vergewaltigung verurteilt. Der Skandal erschütterte Hollywood und die Welt.
Dies ist wohl das prominenteste Beispiel von sexuellem Machtmissbrauch in den vergangenen Jahren. Doch der Weinstein-Skandal bildet lediglich die Spitze des Eisbergs ab. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist ein weltweites, ein gesamtgesellschaftliches Problem. Sie kommt überall vor. Im Privaten, im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, unabhängig vom sozialen und finanziellen Status der Täter und betroffenen Frauen. Auch in Deutschland. Aktuelle Studien sprechen eine klare Sprache:
Daria Abramov, stellvertretende Vorsitzende der dbb jugend, fordert die Politik angesichts der Gesamtstudienlage auf, schnell und entschlossen zu handeln. „Es ist jetzt absolut entscheidend, dass wir drei Dimensionen im Blick haben, gerade der öffentliche Dienst hat eine Vorbildfunktion“, unterstreicht sie. „Erstens müssen wir sexualisierte Gewalt konsequent verfolgen und bestrafen. Zweitens müssen wir alles dafür tun, um betroffenen Frauen zu helfen. Und drittens müssen wir durch Prävention dafür sorgen, dass es gar nicht erst zu Taten kommt.“
Gewalttäter dürfen nicht schnell wieder vom Radar verschwinden. Sie müssen nach dem ersten gewaltsamen Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser
Bei der Betreuung der Opfer spielen Frauenhäuser eine große Rolle – diese sind allerdings chronisch überfüllt: CORRECTIV.LOKAL hat für 13 Bundesländer analysiert, wie oft Frauenhäuser im Jahr 2022 ausgelastet waren. Ergebnis: „Vergangenes Jahr meldeten die ausgewerteten Frauenhäuser im Durchschnitt an 303 Tagen, dass keine Aufnahme möglich war. Wenn ein Platz frei wurde, war er oftmals schon nach wenigen Stunden wieder besetzt“, schreibt das Rechercheteam. Abramov: „Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was das für Frauen bedeutet, die akut Gewalt erleben. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.“
Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation von Frauen zu verbessern, die Gewalt erfahren, das fällt in den Verantwortungsbereich von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Was die Häuser der beiden Ministerinnen jeweils planen, lässt sich grob in sechs Handlungsbereiche gliedern.
Zur Situation in den Frauenhäusern hat sich Lisa Paus unter anderem im ZDF-Morgenmagazin geäußert. „Richtig ist, dass wir da noch besser werden müssen“, räumte sie ein.
Für die Frauenhäuser vor Ort sind Länder und Kommunen zuständig. Aktuell arbeite das Bundesfamilienministerium mit den Ländern daran, die Vorgaben der Istanbul-Konvention umzusetzen. Dabei geht es auch um eine bessere Finanzierung der Frauenhäuser und Beratungsstellen, sagte die Ministerin. Aktuell laufe ein Investitionsprogramm, um mehr Plätze in Frauenhäusern zu schaffen.
„Wir schauen auch, inwieweit wir gemeinsame Mindeststandards entwickeln können“ – die Abdeckung in ländlichen Gegenden sei oft noch schlechter als in Städten. Und wer einen Aufenthalt im Frauenhaus bezahlt, sei nicht immer eindeutig geklärt. „Frauenhäuser müssen für alle Frauen offen sein, unabhängig von ihrer finanziellen Situation“, betonte Paus. Doch derzeit sieht die Realität anders aus, beispielsweise in Baden-Württemberg.
Viele Frauen zeigen Übergriffe nicht an, etwa aus Angst oder Scham. Um gezielt gegenzusteuern, wollen die zuständigen Ministerien und das Bundeskriminalamt das Dunkelfeld besser ausleuchten. „Dazu läuft gerade eine breit angelegte Studie“, sagte Paus im ZDF. Die zentralen Fragen: „Was hindert Frauen daran, Anzeige zu erstatten? Welche Mechanismen greifen beim Thema Gewalt?“
Die Studie soll nicht zuletzt mehr Klarheit darüber schaffen, ob die gestiegenen Fallzahlen daraus resultieren, dass mehr Frauen Taten anzeigen oder tatsächlich mehr Übergriffe stattfinden. Erste Ergebnisse sollen laut Bundesinnenministerium (BMI) 2025 vorliegen.
Seit Februar gilt die Istanbul-Konvention uneingeschränkt in Deutschland, im vergangenen Jahr hat die Bundesregierung ihre Vorbehalte zurückgezogen. Damit gilt der Schutz der Konvention auch umfassend für Migrantinnen.
„Istanbul-Konvention“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung – genau genommen ist die Rede vom Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Der Europarat hat es 2011 in Istanbul verabschiedet, um Frauen vor sämtlichen Gewaltformen zu schützen und diese aktiv zu bekämpfen.
Die Bundesregierung hat das Deutsche Institut für Menschenrechte damit beauftragt, den Fortschritt der Umsetzung zu überwachen und regelmäßig Bericht zu erstatten. Konkret zuständig ist seit November 2022 die Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt.
Vor allem Frauen sind von sexueller Belästigung auch am Arbeitsplatz betroffen. „Arbeitgeber*innen sollten sich ganz klar positionieren“, sagt Ferda Ataman, Unabhängige Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, auf Anfrage von #staatklar. Konkret könne das über Regeln in Betriebsvereinbarungen geschehen. Außerdem seien alle Arbeitgebenden in Deutschland verpflichtet, eine Beschwerdestelle einzurichten, bei der sich Mitarbeiterinnen melden können, wenn sie Opfer von Sexismus oder sexueller Belästigung werden. „Ich rate Arbeitgeber*innen dazu, offen mit dem Thema umzugehen“, resümiert Ataman. „Fortbildungen sind in diesem Zusammenhang ein wichtiges Thema.“
Um bei Taten schnell und sensibel reagieren zu können, will das BMI die Aus- und Fortbildung bei der Polizei verbessern. Katrin Walter, Abteilungsleiterin für den öffentlichen Dienst im BMI, sagte auf der frauenpolitischen Fachtagung des dbb: „Die Ministerin will sich dafür einsetzen, bei der Polizei flächendeckend spezielle Ansprechstellen für von Gewalt betroffene Frauen zu schaffen.“ Dabei solle das speziell geschulte Personal zum Einsatz kommen.
In Hinblick auf Gewalt gegen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes steht das BMI im engen Austausch mit Ländern und Kommunen. Für Ende 2023 ist ein Workshop geplant, um sich über Erkenntnisse zur Gewaltprävention auszutauschen, berichtete Walter. „Wir wollen uns mit der Frage beschäftigen, wie wir möglichst niedrigschwellige Meldewege für Gewaltvorkommnisse schaffen können.“
Das BMI will innerhalb des öffentlichen Dienstes klare Zeichen setzen und eine Nulltoleranzpolitik vertreten. Deshalb hat das Ministerium einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Bundesdisziplinargesetzes vorgelegt. „Ziel ist die Beschleunigung von Disziplinarverfahren“, erklärte Walter. Die Behörden sollen bei Vergehen schneller angemessene Sanktionen verhängen können – bis hin zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst. Das Gesetz betreffe nicht nur Verfassungsfeinde, es könne auch bei Übergriffen auf Kolleginnen angewandt werden.
Null Toleranz auch in Hinblick auf häusliche Gewalt: „Gewalttäter dürfen nicht schnell wieder vom Radar verschwinden“, sagt Bundesinnenministerin Faeser auf Anfrage von #staatklar. „Sie müssen nach dem ersten gewaltsamen Übergriff aus der Wohnung verwiesen werden“ – Aufgabe des Staates sei, dies konsequent kontrollieren, damit Täter nicht schnell wieder zurückkehren. „Alle Betroffenen müssen sich vor erneuter Gewalt sicher fühlen können.“
„Wir müssen gemeinsam an unseren gesellschaftlichen Rollenbildern arbeiten“, unterstrich Katrin Walter in ihrer Rede beim dbb. „Dazu können alle durch das eigene Verhalten etwas beitragen.“
„Gewalt hat etwas mit Machtausübung zu tun“, sagte Bundesfamilienministerin Paus im ZDF. Je mehr die Gesellschaft sich das bewusst mache, je mehr sie für einen demokratischen und partnerschaftlichen Umgang arbeite, desto eher werde erreicht, dass Gewalt gegen Frauen nicht mehr vorkommt.
„Ob die Maßnahmen der Politik erfolgreich sind, wird sich zeigen“, kommentiert Daria Abramov. „Ich hoffe jedenfalls, dass die nächsten Statistiken wieder etwas optimistischer stimmen.“
Milanie Kreutz, Vorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung, pflichtet ihr bei: „Jeder Mensch hat das Recht auf ein gewaltfreies Leben“, betont sie. „Frauen müssen in einer Welt ohne Sexismus und Anfeindungen leben können“ – es sei ganz entscheidend, dass sich insbesondere Politik, Justiz und Arbeitgebende ihrer enormen Verantwortung bewusst sind und nicht nur reagieren, sondern von vorneherein aktiv vorbeugen und eine Kultur der Empathie fördern, eine Kultur des Respekts.
Text: Christoph Dierking