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Alexander Lipp ist Lehrer und Mitglied der Landesjugendleitung der dbb jugend in Brandenburg. Foto: Privat
Landtagswahl in BrandenburgLehrer fordert: „Schulen müssen Zentrum des gesellschaftlichen Lebens werden“
Laut Umfragen ist Bildung nach Migration das zweitwichtigste Wahlkampfthema in Brandenburg. Aus gewerkschaftlicher Sicht besteht großer Nachholbedarf.
Alexander Lipp engagiert sich im Verband Bildung und Erziehung (VBE) und ist Mitglied der Landesjugendleitung der dbb jugend in Brandenburg. Als Lehrer für Politik unterrichtet er junge Menschen, die bei der Landtagswahl am Sonntag, 22. September, erstmals ihre Stimme abgeben. #staatklar hat mit ihm über Demokratiebildung, überfällige Reformen der Bildungspolitik und den drohenden Rechtsruck gesprochen.
#staatklar: Herr Lipp, junge Menschen befinden sich im Dauerkrisenmodus. Sie fühlen sich nicht gehört, die Belastungen angesichts der Krisen in der Welt sind groß, psychische Probleme nehmen zu. Das schürt Unzufriedenheit. Wie erleben Sie die Situation als Lehrer?
Alexander Lipp: Bei uns in der Schule nehme ich wahr, dass der Krisenmodus in den Hintergrund getreten ist. Insgesamt haben sich die jungen Menschen von der Pandemie inzwischen erholt. Allerdings mit einer Einschränkung: Wir haben deutlich mehr Fälle von Angststörungen, die sich nicht an konkreten Ursachen festmachen lassen. Das ist eine Herausforderung. Klar, Schulangst und Prüfungsangst hat es schon immer gegeben, aus oft nachvollziehbaren Gründen. Aber diese Dimension der starken Verunsicherung der Jugendlichen ist seit Corona neu.
Wie gehen Sie damit um?
Es ist wichtig, individuelle Lösungen zu finden und Druck herauszunehmen. Ganz akut kann es helfen, wenn die Schulsozialarbeiterin im geschützten und bewertungsfreien Raum als Gesprächspartnerin zur Verfügung steht. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie bei einer Panikattacke in der Abiturprüfung mit dem Betroffenen einen Spaziergang gemacht hat. Das sind einige Beispiele, bei denen wir helfen können.
Gibt es überhaupt ausreichend Sozialarbeitende in den brandenburgischen Schulen?
Natürlich kann man die Frage, was ausreicht, immer ausgiebig diskutieren. Fakt ist: Es besteht eine enorme Nachfrage an allen Schulen. Und damit meine ich nicht nur die Nachfrage bei den Schülerinnen und Schülern.
Auch die Eltern nehmen das Angebot sehr gerne an; beispielsweise organisiert die Kollegin Informationsveranstaltungen über Drogenmissbrauch oder Mediennutzung. Das ist eine sinnvolle Entlastung der Lehrkräfte, die ohnehin schon viele Aufgaben außerhalb des Unterrichts übernehmen müssen, für die sie – wenn überhaupt – nur oberflächlich ausgebildet sind. Wir Lehrkräfte haben ebenfalls mit der Sozialarbeit eine Anlaufstelle vor Ort, wo wir Rat suchen und Unterstützung finden können.
Die Zeit fehlt und das ist angesichts des Lehrkräftemangels leider Normalität, weil die Personaldecke einfach viel zu dünn ist. Wenn ich merke, dass bei einem jungen Menschen etwas nicht stimmt, ist es sehr hilfreich, wenn ich sofort die Sozialarbeiterin ins Boot holen kann.
Die Politik muss Standards für eine moderne Schule verbindlich festlegen und schnellstmöglich umsetzen.
Alexander Lipp
Die Bildungspolitik bewegt die Menschen in Brandenburg – laut einer Umfrage des ZDF ist sie mit 21 Prozent das zweitwichtigste Thema im Wahlkampf. Was muss sich ändern?
Früher haben die Lehrkräfte ihren Unterricht gemacht und das war’s in der Regel. Heute soll die Schule nicht nur bilden, sondern viele weitere Funktionen erfüllen und das ist im Grundsatz völlig richtig. Aber dafür müssen wir die Schule zum Zentrum des gesellschaftlichen Lebens machen. Da reichen Lehrkräfte, eine Sekretärin und ein Hausmeister nicht mehr aus.
Wir brauchen die Kompetenzen von Fachkräften, die alles abdecken, was im Schulalltag wichtig sein könnte: zum Beispiel Logopäden, Physiotherapeuten, Einzelfallhelfende, Verwaltungskräfte und eben Sozialarbeitende. Da gibt es noch großen Nachholbedarf. Hier erwarte ich eine konkrete Strategie – zumal es ja auch darum geht, die Vorgaben der UN-Behindertenkonvention umzusetzen. Man kann nicht einfach sagen: „Die Lehrkräfte machen jetzt Inklusion und los.“ Das funktioniert nicht. Alle Gruppen der Gesellschaft, die etwas beitragen können, müssen anpacken. Das meine ich mit der Schule als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens.
Nicht zuletzt ist es aus gewerkschaftlicher Sicht erschreckend, dass es vor allem in Hinblick auf die Ausstattung und digitale Anbindung bisher kaum einheitliche Standards für Schulen gibt. Zu moderner Bildung gehören eben nicht mehr nur Tisch, Stuhl und Tafel. Die Politik muss hier Standards für eine moderne Schule verbindlich festlegen und schnellstmöglich umsetzen – und zwar verstärkt auf Landesebene, weniger im Kommunalen, um wirklich dieselben Bedingungen zu schaffen. Aktuell müssen Lehrkräfte mitunter über mehrere Jahre hinweg Dinge bei der Verwaltung beantragen, die längst überfällig sind.
Wahlumfragen sehen die AfD mit 29 Prozent an erster Stelle, gefolgt von der SPD mit 26 Prozent. Dass die AfD in Regierungsverantwortung kommt, gilt als unwahrscheinlich, weil niemand mit ihr koalieren möchte. Aber rein hypothetisch: Welche Folgen hätte es, wenn sie im Ministerium Bildungspolitik gestaltet?
Das wäre dramatisch, weil Bildungspolitik sehr direktiv gesteuert wird. Zwar beschließt der Landtag das Schulgesetz, aber das Bildungsministerium regelt viel über Verordnungen. Welche Fächer werden unterrichtet? Bekommen freie Schulen mehr Geld und welche Voraussetzungen müssen sie erfüllen? Und ist es erlaubt, die eigenen Kinder zu Hause zu beschulen? Dies sind Beispiele für Fragen, die verdeutlichen, wie stark die AfD das staatliche Schulsystem in ihrem Sinne umkrempeln könnte.
Ich weiß von vielen Kolleginnen und Kollegen, dass sie einen AfD-Minister nicht als Dienstherrn akzeptieren wollen. Sie würden sich gegebenenfalls entpflichten lassen und in ein anderes Bundesland wechseln.
Als Politiklehrer müssen Sie sich auch im Unterricht mit der AfD befassen; in den Sozialen Medien erreicht die Partei viele junge Menschen.
Das ist richtig, in fast jedem Newsfeed findet sich AfD-Werbung. Der Content ist handwerklich gut gemacht und passt zur Zielgruppe. Natürlich müssen wir uns damit auseinandersetzen. Handlungsmaxime für Lehrkräfte, vor allem im Fach Politik, ist der sogenannte Beutelsbacher Konsens. Er besteht aus drei Teilen.
Erstens ist es nicht erlaubt, eine bestimmte Partei im Unterricht schlechtzumachen. Es muss Ergebnisoffenheit bestehen. Das bezeichnet man als Überwältigungsverbot. Zweitens muss alles, was die Gesellschaft kontrovers diskutiert, auch in der Schule kontrovers diskutiert werden – es geht darum, eine politische Frage aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Dahinter verbirgt sich das Kontroversitätsgebot.
Und drittens soll der Unterricht die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzen, politische Angebote zu analysieren und in die eigene Interessenlage einzuordnen. Sie sollen lernen, Daten und Fakten heranzuziehen und Falschbehauptungen zu erkennen.
Die Wahlen in Thüringen und Sachsen haben gezeigt, dass die Bundespolitik aktuell große Auswirkungen auf die Wahlentscheidungen auf Landesebene hat.
Alexander Lipp
In Brandenburg gilt das Wahlalter 16. Von den politischen Inhalten abgesehen: Wie bereiten Sie die jungen Menschen auf die Wahl vor?
Natürlich geht es um viele praktische Fragen. Zum Beispiel: Immer an den Personalausweis und die Wahlbenachrichtigung denken!
Bewährt hat sich die Juniorwahl, mit der Schulen bundesweit eine Wahl simulieren. Bei uns nehmen bereits Schülerinnen und Schüler ab dem achten Jahrgang teil. Es gibt eine Wahlurne, eine Wahlkabine, Stimmzettel, Wahlhelfende – alles, was es auch bei einer echten Wahl gibt. Und dann wird gewählt. Wir weisen auch darauf hin, dass niemand wählen muss, der nicht wählen möchte, das gehört ebenfalls dazu. Denn in Deutschland besteht keine Wahlpflicht, sondern ein Wahlrecht.
Für mich persönlich spielt es eine große Rolle, dass die Schülerinnen und Schüler alle Informationen bekommen, die sie für ihre Wahlentscheidung brauchen. Es sollen keine Fragen offenbleiben.
Noch einmal zurück zur Landespolitik: In Thüringen hätten sich laut Umfragen 47 Prozent Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten gewünscht, die Linkspartei landete allerdings weit abgeschlagen mit 13,1 Prozent auf dem vierten Platz. Jetzt wollen laut aktuellen Umfragen 55 Prozent Woidke als Ministerpräsidenten, allerdings sehen sie nicht die SPD vorne. Es gab Wahlen, da hat ein starker Spitzenkandidat auch zum Wahlsieg geführt. Sind diese Zeiten vorbei?
Woidke verkörpert die Figur des Landesvaters, viele Menschen nehmen ihn als guten Ministerpräsidenten wahr. Aber die Wahlen in Thüringen und Sachsen haben gezeigt, dass die Bundespolitik aktuell große Auswirkungen auf die Wahlentscheidungen auf Landesebene hat. Insgesamt findet eine Vermengung statt, die in den vergangenen Jahren nicht so stark war. Das macht es für junge Menschen schwierig. Entsprechend kommt es im Unterricht darauf an, zu vermitteln, wo die Zuständigkeiten des Bundes und Länder liegen.
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Ganz nebenbei: Es kommt ja nicht von ungefähr, dass Woidke den Bundeskanzler aus seinem Wahlkampf heraushalten möchte.
Was würden Sie den Menschen, die zur Wahl aufgerufen sind, aus gewerkschaftlicher Sicht mit auf den Weg geben?
Gehen Sie zur Wahl, geben Sie Ihre Stimme ab – und bei allem Unmut, den es bei dem einen oder anderen geben mag: Eine Stimme kann auch Schaden anrichten. Alle sollten für sich sorgfältig überlegen, was sie als Bürgerinnen und Bürger verantworten wollen.
Von der Politik wünsche ich mir, dass sich die demokratischen Parteien besonnen verhalten, die Bundespolitik ausklammern und nach der Wahl sachlich analysieren, wie sie das Land Brandenburg bestmöglich zum Wohle der Brandenburgerinnen und Brandenburger voranbringen können.
Interview: Christoph Dierking